„Wir sind nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden“
Seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Sicherheitslage in Europa und auch in Deutschland grundlegend verändert. Selbst ein Krieg scheint nicht mehr ausgeschlossen. Um die Bundeswehr besser für die Landes- und Bündnisverteidigung zu rüsten, hat die Bundesregierung den Verteidigungsetat drastisch erhöht. Zudem soll die Zahl der aktiven Soldatinnen und Soldaten von derzeit rund 182.000 auf 260.000 steigen. Wie zusätzliches Personal gewonnen werden soll, ist allerdings noch unklar; aktuell ist eine Diskussion über den Wehrdienst entbrannt. Zugleich bedrohen Cyberangriffe, Sabotage, gezielte Desinformation und Naturkatastrophen die kritische Infrastruktur und die Sicherheit Deutschlands.
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr – Gesundheitsdienstleister der Truppe
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist für die weltweite medizinische Versorgung der deutschen Streitkräfte verantwortlich. Er ist mit seinen medizinischen, zahnmedizinischen, veterinärmedizinischen, pharmazeutischen und lebensmittelchemischen Fähigkeiten der Gesundheitsdienstleister für die Soldatinnen und Soldaten, versorgt Verwundete, hält die Truppe widerstandsfähig und trägt zur Abschreckung bei.
„Die aktuelle Entwicklung ist besorgniserregend“, begann Generalarzt Dr. Rolf von Uslar seinen Vortrag bei der BZÄK-Bundesversammlung am 1. November in Berlin. Er sei zwar Zahnarzt, aber nicht für den zahnärztlichen Dienst der Bundeswehr zuständig. Als Chef des Stabs Kommando Gesundheitsversorgung kümmere er sich um sämtliche Gesundheitsleistungen der Bundeswehr, die über ein komplexes Gesundheitssystem und eigene Gesundheitsämter verfüge.
Die Soldaten brauchen auch eine dentale Fitness
„Die Lage ist ernster geworden. Sicherheit und Stabilität sind keine Selbstverständlichkeiten mehr“, schätzte von Uslar die derzeitige Situation ein. Der Grund dafür sei nicht nur der Krieg in der Ukraine, sondern auch Vorfälle, die hier passieren. So habe es im vergangenen Jahr mehr als eine Viertelmillion Cyberangriffe gegeben, die zu 90 Prozent aus Russland gekommen seien. Und in diesem Jahr waren es ihm zufolge noch deutlich mehr. Dazu habe es im vergangenen Jahr über 500 Drohnenüberflüge gegeben.
„Wir sind in einer hybriden Bedrohungslage“, erklärte der Generalarzt. „Wir sind nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden.“ Die Russen beobachteten, wie Deutschland mit der Situation umgeht. „Es schaukelt sich langsam hoch“, beschrieb von Uslar die Lage.
Im Umgang mit der neuen Bedrohungslage gelte die Devise: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Auch der Sanitätsdienst sei dabei, sich auf die zunehmende Bedrohung einzustellen. Um einsatzbereit zu sein, müssten die Streitkräfte fit sein – sowohl physisch als auch sozial und psychisch. „Wir brauchen auch eine dentale Fitness“, erklärte von Uslar. Bei der Mundgesundheit der Soldatinnen und Soldaten habe die Bundeswehr große Erfolge erzielt, sei aber bei Weitem noch nicht am Ziel.
Zahnmedizinische Lücken im Bundeswehrkrankenhaus
Derzeit arbeite die Bundeswehr an der Umsetzung des sogenannten Operationsplans Deutschland. Durch die geopolitische Lage in der Mitte Europas habe die Bundesrepublik eine besondere Rolle, sei eine Art Drehscheibe. Mit dem Operationsplan bereite sich das Land beispielsweise auf den Fall vor, dass Streitkräfte und Material an eine Front im Osten verlegt werden müssen. „Wir rechnen dann damit, dass pro Tag etwa 1.000 verletzte Soldaten zurückkommen“, berichtete von Uslar. Dazu kämen Verletzte aus anderen Ländern. Sie alle müssten versorgt werden – stationär, ambulant sowie in Rehaeinrichtungen.
„Dafür brauchen wir Ihre Hilfe“, appellierte von Uslar an die Delegierten der BZÄK-Bundesversammlung. In einer solchen Lage müsse die zivile Gesellschaft die Bundeswehr unterstützen. „Verteidigung und Abschreckung sind eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, betonte der Generalarzt der Bundeswehr.
Wichtig sei dabei, auch die eigene Resilienz zu erhöhen. So gebe das Bundesamt für Katastrophenschutz in einer Broschüre Tipps, wie sich private Haushalte auf Krisen vorbereiten könnten. Aber ebenso gelte, die Zahnarztpraxen für Krisen zu wappnen. „Lassen Sie uns das machen, was die Zahnmedizin stark gemacht hat: Prävention“, schlug von Uslar vor. Er dankte den Standesvertretern für die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, und „über den Mundwinkel hinauszudenken“. Es gebe allerdings noch Einiges zu tun. Der leitende Zahnarzt des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sei bereits mit der Zahnärzteschaft im Gespräch und werde es fortsetzen, informierte von Uslar.
Derzeit überlege der Sanitätsdienst, wo Zahnärztinnen und Zahnärzte noch eingesetzt werden könnten. Er umriss ein mögliches Szenario so: In einer Krise würden Zahnärzte des Bundeswehr-Sanitätsdienstes an die Front verlegt. Dadurch entstünden Lücken in Deutschland, beispielsweise im Bundeswehrkrankenhaus. Dann bräuchte die Bundeswehr Vertragszahnärzte, die sie im Land unterstützen, um Verletzte, aber auch Flüchtlinge zu versorgen. „Wir brauchen jetzt zupackenden Optimismus, in der ganzen Gesellschaft“, machte von Uslar deutlich. Dr. Martin Ullner vom Berufsverband Deutscher Oralchirurgen (BDO) sagte, dass es bereits ein Konzept gebe, wie niedergelassene Oralchirurgen im Fall einer Krise unterstützen können.
Keine Angst machen, sondern Vorsorge treffen
In seinem Vortrag informierte von Uslar auch über den Stand der Gesetzgebung. So seien in den 1980er-Jahren 13 Sicherheitsgesetze in Kraft getreten – diese bildeten noch immer den Rahmen für die Verteidigung. Allerdings gebe es kein Gesundheitssicherstellungsgesetz, weil das damals am Widerstand der Ärzte gescheitert sei. Unter der Ampelregierung habe das Bundesgesundheitsministerium daher ein Gesundheitssicherstellungs- und Vorsorgegesetz geplant. Aktuell gebe es nun Arbeitsgruppen, in denen die Bundeswehr mitwirkt, die ein Gesundheitssicherstellungsgesetz auf den Weg bringen wollen.
Der Generalarzt erwähnte auch das Konzept „Fight tonight“. Dieses sehe vor, dass man im Ernstfall vorbereitet sein soll. „Keine Angst machen, sondern Vorsorge treffen“, erläuterte er. Dafür benötige man einen Überblick, wer in welcher Situation verfügbar ist. Im Ernstfall müsse jeder seinen Platz kennen. Bei der Klärung der Verfügbarkeit und der Organisation von Prozessen für den Ernstfall sei die Bundesrepublik noch am Anfang, räumte von Uslar ein. Insgesamt sei die Personalsituation heute schwieriger zu lösen als die materielle. Gleichzeitig laufe die Zeit weg, man diskutiere noch zu allgemein. Gefragt, wann er einen Angriff für denkbar hält, nannte der Generalarzt das Jahr 2029.
„Wir wissen, dass die Situation ernst ist und dass wir auf Krisen vorbereitet sein müssen“, sagte die neue BZÄK-Präsidentin Dr. Romy Ermler. Die BZÄK erarbeite gerade ein Konzept – so sei etwa ein Leitfaden zur Krisenvorsorge von BZÄK und KZBV in Arbeit. Die Bundeszahnärztekammer sei auch in das Gesetzgebungsverfahren involviert und in drei Arbeitsgruppen eingebunden.




