"Abgründe des Klinikalltags"

dg
Gesellschaft
Psychose, Krebs, Tod - aber auch Ökonomisierung und Arbeitsbelastung: Die Band "Tante Doktor" erzählt mit schlechten Witzen und leiser Melancholie kleine Geschichten aus dem Klinikalltag - ein Interview über den kreativen Schaffungsprozess des "Medical Songwritings".

Frau Becker, Herr Voigtmann, Sie erzählen in Ihren Liedern viele kleine Geschichten aus dem Klinikalltag. In einem Songgeht es zum Beispiel um einen kleinen Jungen, der am Herzen operiert werden muss. Ist die Geschichte an ein reales Erlebnis geknüpft?

Hans Voigtmann:Den Jungen in dem Song "Der kleine Wolf" gibt es wirklich. Seine traurige Geschichte haben wir versucht in Musik packen. Wir denken, dass uns das auch gelungen ist. Zumindest hat uns das Endergebnis ein gutes Gefühl gegeben.

"So hab ich mir das nicht vorgestellt - Schlauch um Schlauch, das kleine Gesicht entstellt.Und rote Routine der kriechenden Raupe - Kosmos der Weltraummedizin.Und wenn er schläft, schläft er für immer - und wenn das kleine Herz zerbrichtUnd wenn es nicht klappt, dann weint deine Ma - weil es keine Wölfe gibt"

(Auszug aus "Der Kleine Wolf" von Tante Doktor)

Diesen Schaffungsprozess bezeichnen Sie als "Medical Songwriting". Geht es dabei immer um die Verarbeitung des Erlebten?

Voigtmann: Es ist nicht unser primäres Ziel, die täglichen Erlebnisse aus dem Klinikalltag verarbeiten. Wir sehen den Prozess des Songwritings nicht als psychotherapeutische Komponente. Das eigentliche Ziel dieses Projektes ist, gemeinsam Musik zu machen.

Wen wollen Sie mit Ihren Songs erreichen?

Sarah Becker: Jeden, der Lust hat, unsere Musik zu hören. Wir machen unsere Songs nicht nur für Mediziner oder nur für Leute vom Fach. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Themen die wir bearbeiten, Krankheit, Leid, Tod, Ökonomisierung der Medizin, Arbeitsbelastung - eben diese am Krankenbett kollidierenden Welten eines medizinischen Mikrokosmos - alle in unserer Gesellschaft etwas angehen. Und vielleicht können wir mit unserer Musik einen kleinen Teil dazu beitragen, diese Dinge wieder in die Welt zu tragen.

In Ihrer Musik schwingt auch immer etwas Melancholie mit.

Becker: Ich glaube es ist immer leichter traurige Musik zu schreiben als fröhliche Musik, weil es manchmal schnell albern werden kann.

Voigtmann: Wir können nicht lustig sein. Deswegen schreiben wir traurige Musik. (lacht)

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"Wir lösen beim Publikum hin und wieder einen Schockmoment aus"

Was macht Ihre Konzerte besonders?

Becker: Wir haben sicher immer einen sehr stillen Moment während eines Konzerts, wo man eine Stecknadel fallen hören könnte und der ein oder andere einmal schlucken muss. Außerdem sind wir super witzig.

Bei welchen Liedern spüren Sie diesen stillen Moment beim Publikum?

Becker: Einige melancholische Lieder haben häufig einen faden Beigeschmack. Momente der Stille spüren wir häufig dann, wenn das Publikum noch einmal darüber nachdenkt, was wir mit unserer Musik erzählt haben. Wenn wir „Der kleine Wolf“ spielen, fällt das besonders auf. Wir beobachten, dass wir mit unserer Musik beim Publikum hin und wieder einen Schockmoment auslösen. Aber das ist auch unsere Intention. Wir möchten dem Publikum Abgründe des Klinikalltags, wie zum Beispiel Tod und Sterben, nahe bringen. 

Sie machen seit 2010 gemeinsam Musik, seit 2012 gibt es "Tante Doktor". Wie haben Sie zueinander gefunden?

Voigtmann: Das Projekt entstand ursprünglich aus dem Gießener Medizinerkabarett „elephant toilet“ in dem wir unter anderem als Begleitband mitgewirkt haben. Danach haben wir das Musikalische weiterverfolgt.

Was hat es mit dem Bandnamen "Tante Doktor“ auf sich?

Becker: Heutzutage muss man alles „gendern“. Bandnamen eben auch.

Wer oder was inspiriert Sie?

Becker: Wir sind sehr offen, was verschiedene Arten von Kunst und Musik betrifft. Gerne schauen wir uns auch andere Künstler an und lassen es auf uns wirken, aber am meisten trägt doch die Umwelt und das täglich Erlebte dazu bei, Ideen zu sammeln, somit inspirieren wir uns wohl auch irgendwie gegenseitig.

Wo texten Sie die Songs?

Voigtmann: Im Urlaub oder zu Hause am Klavier. Als Paar machen wir selbstverständlich zusammen Urlaub und schreiben deshalb auch im Urlaub zusammen Songs. Die Melodien komponiert Sarah, die Texte schreibe ich. Nach dem Job reicht oftmals die Zeit nicht, um in den Prozess des Songwritings einzutauchen. Unter der Woche proben wir zwei- bis dreimal eher die Songs, die schon existieren. Um neue Songs zu schreiben, brauchen wir gebündelte Zeit im Urlaub.

Welche Reaktionen bekommen Sie von den Zuhörern? Immerhin sind Songs nicht immer leichte Kost …

Voigtmann: Die Musik kam bisher immer sehr gut an. Unsere schlechten Witze manchmal nicht.

Haben Sie einen richtig schlechten Witz parat?

Voigtmann: Da gibt es diesen Fledermaus-Witz ...Hängen zwei Fledermäuse am Baum. Sagt die eine zur anderen: Weißt du wo vor ich am meisten Angst im Alter habe. Nö, wovor denn? Inkontinenz!

Da kann man lachen, muss man aber nicht!

Sarah Becker ist seit dem Jahr 2014 in einer Zahnarztpraxis in Braunsfels bei Wetzlar tätig. Hans Voigtmann arbeitet seit 2012 als Anästhesist in der Abteilung für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Gießen - aktuell ist er auf der Neurochirurgischen Intensivstation tätig.

Die Fragen stellte Daniela Goldscheck.

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