Das Orale erreicht Berlin
Der Leser erlebe ein "wahres Feuerwerk an unterschiedlichsten Inhalten", sagte Prof. Hartmut Böhme, bis 2012 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Uni Berlin, bei der Buchvorstellung in der Berliner Buchhandlung König.
Mit insgesamt 45 Aufsätzen haben die Herausgeber Böhme und Beate Slominski, Zahnärztin in eigener Praxis und Gründerin und Leiterin des Instituts für zahnärztliche Fortbildung "Wissenschaft und Kultur“, eine Art Patchwork der Disziplinen zusammengestellt, mit dem Ziel, "das tägliche Arbeitsfeld des Zahnarztes wahrzunehmen und diese Grenze zu überschreiten, um sich dem Patienten gewachsen zu fühlen".
Der Dark Continent
Angestrebt wird eine Gesamtansicht nicht nur der Zahnmedizin, sondern auch der anthropologischen, kulturhistorischen, ästhetischen, linguistischen, medialen und psychodynamischen Dimension des Mundraums und der um ihn gruppierten Praktiken. In dem Sinne versammelt das Buch Beiträge, die die bildenden Künste und die Literatur in Geschichte und Gegenwart für die Entdeckung des Dark Continent der Mundhöhle geschaffen haben.
Dabei fällt sofort auf: Wie ein Psychoanalytiker über das Orale spricht, ein Film die Zähne zum visuell bedeutenden Handlungselement macht, Phänomenologen die sinnlichen und Linguisten die oralsprachlichen Leistungen des Mundraums erkunden, ist radikal anders als die Verfahren, mittels derer Zahnärzte, Kieferchirurgen, Neurowissenschaftler oder Ernährungsexperten den Mundraum erforschen. "Zwischen diesen extrem verschiedenen Herangehensweisen gibt es kaum Berührungen, sondern eher eine Kluft", sagte Slominski. "Und das ist die Herausforderung, der sich dieses Buch stellt."
Wir werden im Mund geboren
Die Grundthese: Ein wesentlicher Ort für die Entwicklung des Menschen ist der Mundraum. Dort findet aufgrund der oralen Welterfahrung die zweite Geburt des Menschen - und damit seine Subjektwerdung - statt. Die Mundhöhle: einerseits die Geburtshöhle des Unheimlichen, andererseits der Ursprung der Sprachbildung und damit der Menschwerdung.
Die Hölle im Zahn
Elfenbeinschnitzereien aus dem 18. Jahrhundert dokumentieren beispielsweise die höllischen Schmerzen, das damals mit schlechten Zähnen einhergingen. Ist der schlimmste Ort des Leidens für die Christenheit die Hölle, so müsse diese, das legen die Kunstwerke nahe, im Zahn liegen. Auf der anderen Seite sei der Kuss ein Zeichen der Liebe, des sinnlichen Begehrens, aber auch der aggressiven Grenzerforschung und -überschreitung. Das Küssen selbst sei eine hochartifizielle semantisch-kulturelle Prozedur. Hier |_blankgehts zum zm.tv-Video, das Einblicke ins Buch bietet.