Großbritannien: Düstere Zeiten für die Zahnmedizin
Die Rückmeldungen tausender BDA-Mitglieder auf eine Anfrage des Gesundheits- und Sozialausschusses der Regierung stützten sein drastische Urteil, schreibt Armstrong und skizziert fünf Kernthesen:
1. Die Zugangsschwierigkeiten nehmen zu
Der Bedarf an zahnärztlichen Leistungen werde nicht verschwinden. Tatsächlich bedeute die derzeitige Unmöglichkeit, Zugang zur Versorgung zu erhalten, dass es in Zukunft wahrscheinlich mehr Nachfrage als je zuvor nach zahnärztlichen Leistungen sowohl im National Health System (NHS) als auch bei den Privatleistungen geben werde.
Dabei war der Zugang zu NHS-Zahnbehandlungen schon vor der Pandemie fragil, schreibt Armstrong. So habe eine Analyse 2019 ergeben, dass mehr als 4 Millionen Menschen oder fast 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf eine Behandlung warteten. Derzeit könnten maximal acht Patienten pro Tag pro Behandlungseinheit in Notfallzentren behandelt werden, verglichen mit einer Präpandemiekapazität von mehr als 30 in NHS-Praxen.
Dieser durch den lockdown noch zusätzlich gesteigerte Bedarfsstau werde weiter wachsen, wenn die geltenden Maßnahmen zur Infektionsvermeidung bestehen blieben – und das werde letztlich für weitere Millionen Patienten die bestehenden Zugangsschwierigkeiten erhöhen, prognostiziert er.
2. Unterschiede in der Mundgesundheit werden sich vergrößern
Die ausbleibenden Behandlungs- und Präventionsleistungen hätten bereits Auswirkungen – am härtesten treffe dies Menschen aus benachteiligten und schutzbedürftigen Gruppen, also die Patienten mit hohem Bedarf, die gleichzeitig größere Schwierigkeiten beim Zugang zu Notfallzentren haben. Jüngste Daten von Public Health England zeigen Armstrong zufolge einen mehr als zehnfachen Unterschied in der Schwere der Karies bei Fünfjährigen in wohlhabenden und armen Gemeinden.
Da sich ausgesetzten Präventionsprogramme einschließlich Fluoridlackversiegelungen und überwachtem Zähneputzen für Kinder insbesondere an benachteiligte Gruppen richten, werden sich diese Unterschiede weiter vergrößern, schreibt Armstrong und fordert, nach der Pandemie die Präventionsbemühungen zu verdoppeln.
3. Wenn die private Zahnmedizin zusammenbricht, kollabiert das ganze System
Anfang April beantworteten 2.860 Praxisinhaber auf eine BDA-Umfrage zu den finanziellen Risiken, denen sie ausgesetzt sind. Mehr als 70 Prozent gaben laut BDA an, dass sie Schwierigkeiten haben, länger als drei Monate finanziellzu überleben. Und: Je höher der Anteil der Privatleistungen war, desto schlechter waren die Aussichten. Im Mai gab es bereits die ersten Insolvenzen und Praxisschließungen, schreibt Armstrong, und warnt: Das gesamte System werde kollabieren, wenn die private Zahnmedizin zusammenbricht.
Privatleistungen machten mehr als die Hälfte der fast 8 Milliarden Pfund aus, die in Großbritannien für Zahnmedizin ausgegeben werden, schreibt er weiter. Sie subventionierten zudem zahlreiche Mischpraxen. Seine düstere Prognose: Wenn die Privatpraxen untergehen, verschwindet für Millionen von Menschen die Chance auf eine qualitativ hochwertige Versorgung
.
4. Notwendige Behandlungen werden immer weiter aufgeschoben
Viele Klinikzahnärzte arbeiteten aktuell auf Intensivstationen oder in geriatrischen Abteilungen, berichtet Armstrong und fordert, alle NHS-Mitarbeiter und Freiwillige, die in diesem Umfeld gearbeitet haben, langfristig zu unterstützen. Die physische wie psychische Belastung bei diesen Tätigkeiten sei enorm, heißt es. Außerdem führe die Pandemie in der aufsuchenden Zahnmedizin zu einem Rückstau von dringend notwendigen Behandlungen. Schon vor der Krise sei es zu langen Wartezeiten für größere Eingriffe unter Vollnarkose gekommen, führt er aus. Besonders betroffen von dieser Verschlechterung dieser Situation werden aus seiner Sicht die vulnerablen Patientengruppen sein.
5. Der Ausweg ist möglich
Zahnmedizin und Politik müssten in Zusammenarbeit zu einer neuen, tragfähigen Normalität finden, proklamiert Armstrong. Denn niedrigere Patientenzahlen bei gleichzeitig höheren Kosten für mehr persönliche Schutzausrüstung seien nicht mit den bisherigen Abrechnungsmöglichkeiten darstellbar. Die Politik solle darum in Zusammenarbeit mit dem Berufsstand ein Modell entwickeln, wie die zahnmedizinische Versorgung künftig sichergestellt werden kann. Die Krise sei auch eine Chance, schließt der Vorstandsvorsitzende der BDA. Die Zahnmedizin in Großbritannien habe eine Zukunft - wenn die Regierung begreife, dass sie ihren Bürgern eine gute Versorgung schuldig ist.