Körperliche und verbale Gewalt bedroht zunehmend auch Praxen
Knapp 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten sowie ihrer Praxisteams gaben an, allein im vergangenen Jahr verbale Gewalt erlebt zu haben, meldet die KBV. Auch körperliche Gewalt sei „längst keine Seltenheit mehr“ und habe im vergangenen Jahr sogar sprunghaft zugenommen. So gaben mehr als 40 Prozent der 7.580 an der Umfrage Beteiligten an, in den vergangenen fünf Jahren schon einmal selbst körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt zu haben. Von ihnen wurden allein 60 Prozent im vergangenen Jahr Opfer. Die Fälle reichten von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen.
„Die Verrohung der Sitten ist erschreckend“, kommentierte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. „Ein gesamtgesellschaftlicher Werteverfall trifft auf ein überlastetes und kaputt gespartes Gesundheitssystem. Außerdem wecken Politik und Krankenkassen zu hohe Ansprüche nach dem Motto ‚Geht zum Arzt, da bekommt ihr alles und das sofort‘“, so der KBV-Chef.
Die Ergebnisse im Überblick:
80 Prozent der Befragten haben 2023 Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen erlebt – häufig mehrfach.
„Tatort“ sind nicht immer die Praxisräume, auch am Telefon oder im Internet verzeichnen viele einen raueren Ton.
Von den Betroffenen haben 14 Prozent aufgrund der Vorkommnisse die Polizei eingeschaltet und/oder Anzeige erstattet.
43 Prozent der Befragten haben in den vergangenen fünf Jahren auch körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt. Im Jahr 2023 wurden 60 Prozent von ihnen Opfer.
Ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt Vorkehrungen getroffen – zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele in einem gestiegenen Anspruchsdenken von Patientinnen und Patienten, das teilweise von den Krankenkassen und der Politik geschürt wird. Häufig geht es dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die eingefordert werden.
Gleichzeitig sind den Angaben der Praxen zufolge viele Patienten frustriert, was sich oft in Beleidigungen und Beschimpfungen äußert. Als eine Ursache dafür wird die verfehlte Gesundheitspolitik genannt.
Die zunehmenden Angriffe bleiben nicht folgenlos: Zahlreiche Ärzte und Praxismitarbeitende berichten, dass ihnen der Beruf deshalb keinen Spaß mehr mache und es noch schwieriger werde, gutes Personal zu halten oder zu gewinnen.
In der Regel ist der Arzt-Patienten-Kontakt von Vertrauen geprägt
Insgesamt sei der Ton in der Gesellschaft rauer geworden. Die Praxen bildeten als Spiegelbild der Gesellschaft da keine Ausnahme, ergänzt Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. „Bei einer Milliarde Patientenkontakten, die jährlich im ambulanten Bereich zu verzeichnen sind, verhalten sich die meisten immer noch friedlich“, betonte er. In der Regel sei das Verhältnis zwischen Patientinnen und Patienten und ihren Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten von Nähe und Vertrauen geprägt. „Nichtsdestotrotz ist diese Entwicklung besorgniserregend“, so Hofmeister.
Aus Sicht von KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner unterstreicht „die enorme Resonanz bei der Umfrage die hohe Betroffenheit der Praxen“. Vor diesem Hintergrund müssten die Niedergelassenen der konsequenten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Vollzugsorgane vertrauen können, erklärte sie.
Alle drei Vorstände begrüßen die Pläne des Bundesjustizministers zur Strafverschärfung bei Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und in Notaufnahmen. „Aber auch die Praxen sind ein wichtiger sozialer Faktor und Teil des Gemeinwohls. Sie bedürfen daher auch eines besonderen Schutzes“, stellten sie klar.
Die Online-Befragung der KBV fand vom 15. August bis 2. September 2024 statt. Es beteiligten sich 7.580 Personen, davon waren 46 Prozent Ärztinnen und Ärzte, 9 Prozent Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, 41 Prozent Medizinische Fachangestellte und 4 Prozent Angehörige anderer Gesundheitsberufe.