Masern löschen das Immungedächtnis
WissenschaftlerInnen vom Paul-Ehrlich-Institut in Hessen fanden mit internationalen Kollegen heraus, dass eine Infektion mit dem hochinfektiösen Masernvirus (MeV) zu einer langanhaltenden Immunsuppression führen kann.
Schon länger ist bekannt, dass das Masernvirus das Immunsystem schwächt. Dadurch kommt es im Verlauf einer Erkrankung häufig auch zu weiteren Infektionen wie beispielsweise bakteriell bedingten Lungen- oder Mittelohrentzündungen.
Störung des B-Zell-Apparats
Gründe für die Immunschwäche fanden die ForscherInnen nun in Veränderungen des B-Zell-Apparats: Durch die Infektion steigt die Virenlast im Blut von Erkrankten (Virämie); gleichzeitig sinkt die Lymphozytenzahl dramatisch ab (Lymphopenie). Nach der durchgemachten Infektion erholt sich die Lymphozytenzahl nach dem Verschwinden des Masern-assoziierten Hautausschlags innerhalb von vier Wochen kurz. Der B-Zell-Pool jedoch, also die Menge frei zirkulierender naiver B-Lymphozyten (reife B-Zellen, die bisher keinen Kontakt zu einem Antigen hatten) im Blut, bildet sich nur unvollständig zurück.
Das Immungedächtnis wird gelöscht
Zudem wird die Ausbildung von B-Gedächtniszellen gestört. Diese spezialisierten B-Zellen gehen aus aktivierten B-Zellen (Kontakt mit Antigen) hervor - bei erneutem Kontakt mit demselben Antigen werden sie sofort aktiviert und können innerhalb weniger Stunden eine Immunreaktion auslösen. Ohne sie schwächelt das Langzeitgedächtnis des Immunsystems.
Die ForscherInnen analysierten die Rezeptorvielfalt der Immunzellen und die Entwicklung der B-Gedächtniszellen, bei ungeimpften Personen mit und ohne vorangegangene Maserninfektion sowie bei gegen Masern geimpften Personen. Sie nutzten dazu die B-Zell-Rezeptor(BCR)-Sequenzierung von humanen peripheren Blutlymphozyten vor und nach einer MeV-Infektion.
Während die genetische Zusammensetzung und Vielfalt der B-Gedächtniszellen bei Personen ohne Maserninfektion und bei geimpften Personen stabil blieb, fand sich bei Personen nach Maserninfektionen eine signifikante Zunahme der Mutationsfrequenz in diesen Zellen.
Es "vergisst", mit welchen Erregern es bereits in Kontakt kam
Bei etwa zehn Prozent der Personen, die eine Maserninfektion durchgemacht hatten, war die Vielfalt der Immunzellen sogar sehr stark beeinträchtigt. Zudem zeigen sich zunehmend immunologisch unreife B-Zellen. Die Forscher erklären sie mit einer beeinträchtigten B-Zellreifung im Knochenmark.
Die Ergebnisse zeigen, dass eine Maserninfektion die Vielfalt der naiven und Gedächtnis-B-Lymphozyten verändert, die nach dem Abklingen der klinischen Masernerkrankung bestehen bleiben und somit zu einer beeinträchtigten Immunität gegen frühere Infektionen oder Impfungen beitragen. Das Immungedächtnis "vergisst", mit welchen Erregern es bereits in Kontakt kam.
Hintergrund der Kohortenstudie
Hintergrund der Kohortenstudie
Ein weiterer Forschungsbestandteil der Studie stellte die Untersuchung einer erhöhten Inzidenz für Sekundärinfektionen dar. Dazu konstruierten die ForscherInnen ein Ersatzmodell für den Tierversuch: Zunächst wurde durch eine Influenza-Impfung ein immunologischer Schutz gegen ein Grippevirus aufgebaut. Als Masern-ähnliche primäre Viruserkrankung nutzten sie eine Morbillivirus-Infektion.
Immungedächtnis mit Amnesie
Das Team hat belegt, dass die durch eine Influenza-Impfung erworbene Immunität gegen das Influenzavirus nach der durchgemachten Primaärinfektion mit dem Morbillivirus deutlich erschöpft ist. Dies führte zu einer beeinträchtigten Immunantwort und einer erhöhten Schwere der Erkrankung nach einer sekundären Influenzavirus-Exposition.
Diskussion
Eine MeV-Infektion ist mit einer starken Immunaktivierung, der Erzeugung einer lebenslangen Immunität gegen eine nachfolgende MeV-Infektion und paradoxerweise mit einer starken Immunsuppression verbunden.
Gezeigt wurde, dass die immunologischen Folgen von Masern bis zu mehrere Jahren nach der Infektion anhalten und zu einer erhöhten Kindersterblichkeit führen. Laut einer Kohortenstudie aus Großbritannien hatten 10 bis 15 Prozent der Kinder fünf Jahre nach der Maserninfektion Anzeichen einer Immunsuppression, die zu einer erhöhten Inzidenz von Sekundärinfektionen führte.
In-vitro- und In-vivo-Studien zur MeV-Infektion bei Makaken haben sowohl direkte als auch indirekte Mechanismen für die MeV-induzierte Immunsuppression nahegelegt, einschließlich Lymphopenie, Hemmung der Lymphozytenproliferation und Erschöpfung des immunologischen Gedächtnisses. Die genauen Mechanismen, die der Masern-assoziierten Immunsuppression beim Menschen zugrunde liegen, sind jedoch nach wie vor schlecht charakterisiert.
MeV kann B- und T-Lymphozyten, dendritische Zellen, hämatopoetische Stammzellen (HSC) und Makrophagen, die den zellulären Rezeptor CD150 exprimieren, infizieren. Obwohl sich die Spiegel der gesamten zirkulierenden Lymphozyten vier Wochen nach der Infektion erholen, führen Masern zu einer Erschöpfung spezifischer B- und T-Gedächtniszellen-Untergruppen. Es bleibt unklar, ob adaptive Immunzellen ihre gesamte Bandbreite an Antigenspezifitäten wiedererlangen, um eine effiziente Erkennung neuer Antigene zu gewährleisten und Reaktionen auf zuvor angetroffene abzurufen.
Impfen schützt auch das Immungedächtnis Dreimal mehr Masernfälle
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Dreimal mehr Masernfälle
Velislava N. Petrova, Bevan Sawatsky, Alvin X. Han, Brigitta M. Laksono, Lisa Walz, Edyth Parker, Kathrin Pieper: Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immunosuppression after measles. Published in Science Immunology 1 November 2019. DOI: 10.1126/sciimmunol.aay6125.