Wie ist das eigentlich mit der Gerechtigkeit?
Im Kern geht es um die Frage, mit welchen Mitteln sich ein Gesundheitswesen gerechter gestalten lässt. Während die einen sagen, der Staat ist mit seiner Delegation dieser Aufgabe an die Selbstverwaltung und mit dem Dualismus von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung auf dem richtigen Weg, sehen die anderen gerade im Dualismus den Keim von Ungerechtigkeiten. Dabei sind die Pläne für die einheitliche Bürgerversicherung nicht neu: Seit 2003 und in vier Bundestagswahlkämpfen wurde unter anderem von der SPD dafür geworben.
Die Grundzüge: Das duale System aus Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und Privater Krankenversicherung (PKV) wird grundlegend umgestaltet. Und zwar so: Für alle Versicherte ist eine Versicherung zuständig, also auch für Beamte, Selbstständige und Besserverdienende. Die können sich bislang privat versichern, sofern sie die Einkommensgrenze von aktuell 59.400 Euro Jahresbruttoeinkommen übersteigen. Die Vorteile der PKV – wie etwa niedrige Beiträge für gesunde und junge Versicherte, Chefarztbehandlungen oder geringere Wartezeiten bei Ärzten – generieren in den Augen der PKV-Kritiker aber eine „Zwei-Klassen-Medizin“. Zudem, so der Vorwurf, führe das Duale System durch höhere PKV-Honorare zu Fehlanreizen bei Ärzten.
Abschied von der reinen Lehre
Der Diskussionsstand: Die SPD wehrt sich gegen den Vorwurf, eine Einheitskasse errichten zu wollen. Ohnehin verschwimmen deren einstmals festen Vorstellungen. Von der „reinen Lehre“, das Duale System abzuschaffen, ist die SPD abgerückt. Es gehe vielmehr um ein neues System mit mehr als 100 Bürgerversicherungen – sowohl gesetzliche als auch private –, die miteinander im Wettbewerb stehen, so der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Karl Lauterbach. Auch der alte SPD-Plan, dass GKV-Beiträge auf Einnahmen wie Mieten und Kapitaleinkünfte anfallen, ist (derzeit) vom Tisch. Auf dem Parteitag Anfang Dezember vergangenen Jahres sprach sich zwar auch der eher konservative „Seeheimer Kreis“ für das Modell aus, bestritt aber, die PKV völlig abschaffen zu wollen.
Im SPD-Programm zur letzten Bundestagswahl hieß es unter anderem: „Alle erstmalig und bislang gesetzlich Versicherten werden wir automatisch in die Bürgerversicherung aufnehmen [...] Bisher Privatversicherte können wählen, ob sie in die Bürgerversicherung wechseln möchten. Die gesetzliche Krankenversicherung machen wir für Selbstständige mit geringem Einkommen günstiger. Dazu werden wir die Bemessung der Beiträge für Selbstständige einkommensabhängig ausgestalten und so die Beiträge bei geringen Einkommen senken [...] Darüber hinaus ist es unser Ziel, Leistungen für Zahnersatz [...] zu verbessern.“
Weiterhin geplant ist eine „einheitliche Honorarordnung“ für Ärzte, zudem sollen Arbeitgeber und Versicherte wieder den gleichen Anteil am gesamten Versicherungsbeitrag zahlen. Derzeit gilt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Satz von jeweils 7,3 Prozent. Während jedoch der Betrag bei den Arbeitgebern „eingefroren“ ist, müssen die Versicherten den Zusatzbeitrag der Kassen (rund ein Prozent des Bruttogehalts) alleine schultern.
Das Modell der Bürgerversicherung hat Befürworter und Kritiker. Aus der Politik sind etwa SPD, Grüne und Linke für die Einführung eines derartigen Versicherungsmodells, allerdings in unterschiedlichen Varianten.
Die Hauptargumente der Befürworter
Die Befürworter der Bürgerversicherung führen vor allem folgende Punkte an:
Zu hohe Beiträge der PKV:Die PKV-Beiträge seien für einige PKV-Mitglieder nur noch schwer bezahlbar, weil sie so stark gestiegen sind. Gerade diese Versicherten, besonders betrifft dies ältere Erwerbstätige, hätten mit der Bürgerversicherung die Chance, aus den Verträgen herauszukommen. Auch ehemalige Gutverdiener, die wegen der hohen Prämien in den Basistarif ihrer PKV wechseln müssen, seien betroffen und könnten von einem Wechsel in die Bürgerversicherung profitieren.
Mehr Gerechtigkeit:Mit der Bürgerversicherung kämen mehr Solidarität und mehr Gerechtigkeit ins Gesundheitssystem: Beim Arzt gebe es keine Bevorzugung der PKV-Versicherten mehr, die Ärzte hätten keine Möglichkeit mehr, für die gleiche Leistung von PKV-Patienten höhere Honorare zu verlangen. Mit der Bürgerversicherung bekämen alle Versicherten die gleichen Leistungen – damit wird in den Augen der Bürgerversicherungsanhänger die „ungerechte“ Behandlung von GKV-Patienten im dualen System überwunden.
Keine Einheitskasse:Die Bürgerversicherung solle von den gesetzlichen Krankenkassen und könne auch von den privaten Krankenversicherungen angeboten werden. „Eine Einheitskasse wird es nicht geben“, heißt es im SPD-Informationspapier zur Bürgerversicherung. Die unterschiedlichen Krankenkassen (2017: 113) und privaten Versicherungen (11/2017: 44) blieben auch mit der Bürgerversicherung bestehen. Die privaten Versicherungen könnten nach wie vor Krankenzusatzversicherungen anbieten. Diese Zusatzversicherungen beziehen sich in der Regel auf den Behandlungskomfort (Zweibettzimmer) oder ergänzende medizinische Leistungen (Zahnzusatzversicherungen, Homöopathie).
Günstigere Prämien:Die Bürgerversicherung ermögliche Beitragsvorteile für die Patienten: Zahlen mehr Personen – und mehr Besserverdiener – in die Bürgerversicherung ein, könnten die Beitragssätze sinken, so das Argument.
Einsparungen für den Staat:Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2016 könnten in den nächsten 15 Jahren bis zu 60 Milliarden Euro eingespart werden, wenn die Beamten-Beihilfe abgeschafft wird.
Die Argumente der Kritiker
Dass neben der CDU und der FDP die PKV, die Arbeitgeber, der Deutsche Beamtenbund und auch die Ärzte- und Zahnärzteschaft wenig von einer Bürgerversicherung halten, verwundert nicht: Zwar sind nur knapp elf Prozent der Bundesbürger privat versichert. Diese sorgen in den Praxen aber für ein Mehr an Umsatz, ohne den es viele (Zahn-)Mediziner schwerer hätten. Wächst der wirtschaftliche Druck in den Praxen weiter, könnten einige von ihnen dem nicht mehr standhalten, so das Argument. Die Versorgungslandschaft werde dann zwangsläufig ausgedünnt. Doch nicht nur deshalb wird die Einheitsversicherung rundweg abgelehnt.
Zwei-Klassen-System entsteht:Durch eine Einheitsversicherung entstehe erst eine Zwei-Klassen-Medizin, argumentieren die (Zahn-)Ärzte. Begründung: Das Beispiel England zeige, dass dort, wo es eine Einheitsversicherung gibt, diejenigen, die es sich leisten können, sich als Selbstzahler oder durch Zusatzversicherungen einen exklusiven Zugang zur Spitzenmedizin verschaffen. Dies sei erst die wirkliche Spaltung der Versicherten in eine erste und eine zweite Klasse. „Nur diejenigen, die es sich leisten können, kaufen sich Zusatzleistungen dazu“, sagt etwa der Präsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Dr. Peter Engel, zur geplanten Abschaffung des dualen Systems.
PKV ist Impulsgeber:Ein weiterer Aspekt der Befürworter des dualen Systems: Die PKV ermögliche erst medizinischen Fortschritt – der auch den GKV-Patienten zugute kommt. Denn neue Behandlungsmethoden und innovative Medizinprodukte würden in Deutschland über die PKV anschubfinanziert. Damit wirke diese als Impulsgeber für die GKV. Eine aktuelle Studie der PKV („Wartezeiten auf Arzttermine: Eine methodische und empirische Kritik der Debatte“, Dezember 2017) widerlege zudem das Argument, eine Bürgerversicherung werde zu weniger Wartezeiten für die Versicherten führen.
PKV sichert GKV:Zudem: In den meisten Praxen sei es heute de facto so, dass Privatpatienten mit den höheren Honoraren, die die Ärzte über sie abrechnen können, die Kassenpatienten quersubventionieren. Viele Praxisinhaber sagten sogar, erst die PKV-Patienten ermöglichten mit ihrem die tatsächlichen Kosten deckenden Finanzierungsbeitrag eine hochwertige medizinische Versorgung – und zwar für alle Patienten. Der Wettbewerb der Systeme in Deutschland komme so allen Patienten zugute.
Knackpunkt Altersrückstellungen
Portabilität der Altersrückstellungen:Bei den Beitragsrückstellungen der PKV sind mittlerweile Milliardensummen hinterlegt, die die Versicherten mit ihren Beiträgen selbst erwirtschaftet haben. Nach PKV-Angaben beliefen sich die Rückstellungen für Voll- und Zusatzversicherte Ende 2016 auf 233 Milliarden Euro. Im Fall der Abschaffung der PKV müsse geklärt werden, wem diese Beiträge zugerechnet werden, dem Versicherten, dem dieses Geld „gehört“ – oder dem System? Dies sei rechtlich völlig ungeklärt und eine juristische Kernfrage der Wechselpläne. Kritiker ziehen sogar in Betracht, dass die Bürgerversicherung – auch aus diesem Grund – verfassungswidrig ist.
Fruchtbarer Systemwettbewerb:Die zahnärztlichen Organisationen sind ebenfalls für den Erhalt des Dualen Systems. „In einem wettbewerblich ausgerichteten Gesundheitssystem muss es eine Konkurrenz zwischen GKV und PKV geben“, heißt es in der „Agenda Mundgesundheit 2017– 2021“ der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). Das duale Krankenversicherungssystem zähle zu den besonderen Stärken des deutschen Gesundheitswesens. Die Konsequenz einer Bürgerversicherung „wäre ein einheitlicher Versicherungsmarkt“, in dem alle Krankenkassen nach einheitlichen Rahmenbedingungen agieren. Eine Vereinheitlichung der Rahmenbedingungen für GKV und PKV lehnt die Zahnärzteschaft ab.
Die BZÄK macht ergänzend darauf aufmerksam, dass die duale Krankenversicherung das tragende Element des deutschen Gesundheitswesens sei. Die Erfolge der zahnmedizinischen Prävention und Versorgung seien nur unter den Bedingungen dieses dualen Systems entstanden. Veränderungen des Systems von solidarischer Versicherung und eigener Vorsorge gefährdeten diesen Erfolg. Erst der Wettbewerb der beiden Versicherungsarten untereinander sichere die herausragende Leistungsfähigkeit des hiesigen Gesundheitswesens.
OECD lobt Duales System
Weltweit anerkanntes System:Die Kritiker der Bürgerversicherung können sich dabei auch auf eine aktuelle Studie der OECD stützen: Im Länderreport Deutschland attestiert sie Deutschland aufgrund der Koexistenz von GKV und PKV einen guten Zugang zur Gesundheitsversorgung, einen nahezu flächendeckenden Krankenversicherungsschutz und einen großzügigen Leistungskatalog. Im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa den Niederlanden und Norwegen umfasse das deutsche Leistungsspektrum auch die zahnärztliche Versorgung, Zahnersatz und die Kieferorthopädie. Zudem: Die Patienten zahlten nur ungefähr 13 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche – und damit weniger als im EU-Durchschnitt (15 Prozent). Die Dichte an Ärzten, Krankenpflegern und Krankenhäusern in Deutschland gehöre zu den höchsten in Europa, dies gewährleiste, dass die Verfügbarkeit von medizinischen Dienstleistungen „sehr gut“ ist, so das Urteil. Und: Die Wartezeiten für Termine bei Fachärzten seien in Deutschland am niedrigsten: Nur drei Prozent der Umfrageteilnehmer warteten zwei Monate oder länger.
Jobkiller Bürgerversicherung:Die Bürgerversicherung ist ein Jobkiller, sagen die Kritiker. Und können ausgerechnet eine Untersuchung der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung zur Unterstützung ihrer Kritik heranziehen. Darin wird argumentiert, dass mit dem Wegfall der privaten Versicherer auch 68.000 qualifizierte Arbeitsplätze verloren gehen. Um dies zu verhindern, haben die Betriebsräte der PKV-Unternehmen die Betriebsratinitiative „Bürgerversicherung? Nein danke!” ins Leben gerufen. Auf der Plattform change.org ist von den Betriebsräten eine Petition „Für den Erhalt unseres Gesundheitssystems mit gesetzlicher + privater Krankenversicherung!“ gestartet worden. Die Petition richtet sich unter anderem an Martin Schulz, Angela Merkel und Horst Seehofer. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl hat der Verband der Privatärztlichen Verrechnungsstellen (PVS Verband) in einer Studie den Beitrag der ärztlichen Zusatzhonorare für den Erhalt der medizinischen Infrastruktur untersucht. Ergebnis: Bei Realisierung einer Bürgerversicherung seien etwa 34.000 Vollzeitstellen allein in den ambulanten Praxen bedroht. Mit der Bürgerversicherung würden auf jeden niedergelassenen Arzt im Durchschnitt Honorarverluste in Höhe von 50.000 Euro pro Jahr zukommen.
Arbeitgeber fürchten Mehrbelastungen:Strittig sei zudem der Plan der SPD, zur paritätischen Beitragssatzfinanzierung zurückkehren. Die Arbeitgeber sind dagegen und verweisen auf die bis zu sechswöchige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die sie für die Arbeitnehmer übernehmen. Wird die Beitragsfinanzierung wieder paritätisch gestaltet, befürchten sie Zusatzkosten von mehreren Milliarden Euro.