Großbritannien

Zahnmedizin vor dem Brexit: Dentalketten verschärfen die Versorgungslage

Arndt Striegler
Der Fall sorgte in Großbritannien für Schlagzeilen: Ein 62-jähriger Patient sucht vergeblich nach einem Zahnarzt. Nachdem ihm der National Health Service (NHS) einen Termin in 18 Monaten Zeit anbietet, greift der Patient zur Zange und zieht sich den Zahn selber.

Der Fall zeigt auf eindrucksvolle Art und Weise, wie schlecht die zahnärztliche Versorgung im Königreich ist. Und der bevorstehende Brexit dürfte alles noch schlimmer machen.

Einfach von der Patientenliste gestrichen

Der eingangs erwähnte 62-Jährige lebt in der südenglischen Grafschaft Cornwall. Jahrelang war er als Stammpatient nahe seines Wohnorts bei einem staatlichen Zahnarzt registriert und in Behandlung. Doch nach einem längeren Auslandsaufenthalt strich ihn die örtliche Praxis von der Patientenliste und der Mann stand plötzlich ohne einen Zahnarzt da.

Trotz zahlreicher Anfragen bei dutzenden NHS-Zahnarztpraxen in der Nähe seines Wohnortes in Truro gelang es dem Mann nicht, einen behandlungswilligen Zahnarzt zu finden. Der Patient sah letztlich keine andere Möglichkeit, als sich den kranken Zahn selbst zu Hause mit einer Zange zu ziehen. "Das hat weh getan, aber es war die einzige Lösung", zitieren ihn britische Medien.

Cornwall und Devon: Über 48.000 Patienten warten auf Zahnarztbehandlung

In den Grafschaften Cornwall und Devon stehen derzeit mehr als 48.000 Patienten auf Wartelisten für zahnärztliche Behandlung. 48 Prozent aller Patienten in beiden Grafschaften haben innerhalb der vergangenen zwei Jahre keine Zahnarztpraxis von innen gesehen. Keine Ausnahme im maroden NHS!

Patienten bleibt oft nichts anderes übrig, als sich entweder privat behandeln zu lassen. Oder - sollte dafür das Geld nicht reichen - gar nicht mehr zum Zahnarzt zu gehen.

Zwar weisen zahnärztliche Berufsverbände im Königreich, darunter die British Dental Association (BDA), seit vielen Jahren auf teils eklatante Versorgungsengpässe im NHS hin. Doch dies wird von britischen Gesundheitspolitikern, wie dem amtierenden Gesundheitsminister Matt Hancock, gerne als "Panikmache" und politisch motiviertes Agieren abgetan. "Zahnarztpatienten sind meist gut versorgt", sagte Hancock kürzlich.

Mehr als eine Million Patienten fanden keinen staatlichen Zahnarzt

Die Zahlen freilich sprechen eine andere Sprache. Laut "NHS England" gelang es allein im vergangenen Jahr in England mehr als einer Million Patienten nicht, einen staatlichen praktizierenden Zahnarzt zu finden, der bereit war, sie zu behandeln. Die BDA vergleicht die prekäre Versorgungssituation inzwischen mit "reiner Glücksspiel-Lotterie". Oft hänge es einfach vom Wohnort des Patienten ab, ob dieser Zugang zur staatlichen zahnärztlichen Versorgung habe. Und: "Die Versorgungssituation ist in den vergangenen Jahren deutlich schlechter geworden."

Die BDA, die über erheblichen gesundheitspolitischen Einfluss verfügt, bezeichnet bestimmte Landesgegenden wie zum Beispiel die Grafschaft Lincolnshire (Nord-England) inzwischen gar als zahnärztliche Notstandsgebiete. Doch auch in Großstädten wie London finden Patienten immer öfter keinen NHS-Zahnarzt, der sie behandelt.

Die staatliche Zahnmedizin wird "seit Jahren bewusst politisch kaputt gespart"

Gesundheitspolitische Beobachter, wie der ehemalige Gesundheitsminister Frank Dobson, erklären die teils prekäre Versorgungslage hauptsächlich mit mangelnder Finanzierung. Der staatliche Gesundheitsdienst und besonders die staatliche Zahnmedizin wird "seit Jahren bewusst politisch kaputt gespart", sagte Dobson gegenüber den zm. "Patienten sollen gezwungen werden, sich privat zu versichern und sich privat zahnärztlich behandeln zu lassen. Doch das funktioniert natürlich nicht."

Eine drastische Reform der zahnärztlichen Gebührenordnung im Jahre 2006 sorgte für eine weitere Verschlechterung, denn anstatt wie bisher individuelle Behandlungspositionen abrechnen zu können, wurden staatlichen Zahnärzten vier Behandlungsgruppen aufgezwungen. Diese führten zu teils deutlich schlechteren Einnahmen.

Meist steht sich der Zahnarzt schlechter als vor der Reform

Ob Prävention, Prothetik oder Implantologie - meist steht sich der behandelnde Zahnarzt heute schlechter als vor der Reform. Beispiel Prothetik: Egal, ob ein Patient nur eine Unterkiefer-Prothese bekommt oder eine Oberkiefer-Prothese und zwei Kronen im Unterkiefer - das NHS-Honorar ist gleich. Hinzu kommt, dass private zahnärztliche Behandlungen teuer sind - das kann sich längst nicht jeder Patient leisten.

Eine Zahnextraktion für 200 Pfund

Um beim Fall des eingangs erwähnten Patienten aus Cornwall zu bleiben: Eine Zahnextraktion durch einen privat praktizierenden Zahnarzt hätte ihn mehr als 200 Pfund kosten können.

Spricht man mit staatlichen Zahnärzten im Königreich, so ist die Liste der Klagen lang. Da sind zum einen die Verdienste, die für staatlich praktizierende Zahnärzte deutlich unter den Verdiensten privater Zahnärzte liegen.

"Die Arbeitsbedingungen sind hundsmiserabel"

In Städten wie London gibt es da Unterschiede von 100 Prozent oder mehr. Ob mangelhafte Praxisausstattungen, unbefriedigende Verbrauchsmaterialien wie Füllungen oder ein Mangel an qualifiziertem Praxispersonal - "die Arbeitsbedingungen sind hundsmiserabel", so eine Londoner NHS-Zahnärztin.

Besonders der Mangel an qualifiziertem Praxispersonal ist laut BDA durch den bevorstehenden Brexit eher noch schlimmer geworden. Es zeichnet sich inzwischen ab, dass heute weniger EU-Zahnärzte ins Königreich kommen, um dort zu praktizieren, als dies noch in den Jahren vor dem Brexit-Referendum der Fall war. Berufsverbände blicken dank Brexit besorgt in die Zukunft und erwarten weitere Rekrutierungsprobleme besonders bei qualifiziertem Praxispersonal.

Selbst private Zahnarztpraxen leiden unter dem "Brexit Exodus"

Seit Juni 2016 ist die Zahl der mit EU-Personal neu besetzten Stellen im NHS laut der Organisation ""NHS against Brexit" um mehr als 90 Prozent gesunken. Das gilt auch für die staatliche Zahnmedizin. Und selbst private Zahnarztpraxen in gehobenen Lagen wie dem Londoner Westend - die auch mit Zahnärzten aus der EU arbeiten - leiden inzwischen unter dem "Brexit Exodus", wie eine Blitzumfrage der zm in London ergab.

Ein Hauptgrund für die Zukunftssorgen: die Arbeitsgenehmigung für Zahnärzte aus dem EU-Ausland

Spricht man mit Zahnärzten im Königreich, so ist die mit Brexit verbundene Unsicherheit bezüglich der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen von Zahnärzten aus dem EU-Ausland einer der Hauptgründe für die Zukunftssorgen. Der seit dem Brexit Referendum im Juni 2016 deutlich gesunkene Kurs der britischen Währung ist ein weiterer Faktor.

Viele Praxishelferinnen aus Ost-Europa kamen nach Großbritannien, um relativ gut zu verdienen und dann Geld in ihre Heimatländer zu schicken. Das funktioniert aber nicht mehr, seitdem das britische Pfund Sterling gegenüber dem Euro um rund 20 Prozent an Wert verloren hat.

Ein besonderes Problem in Großbritannien: die Praxisketten

Ein besonderes Problem in Großbritannien sind die Praxisketten, deren Marktanteil in den vergangenen Jahren stetig wuchs. Ihr Marktanteil liegt mit rund 24 Prozent höher als in vergleichbaren anderen europäischen Ländern. Das bringt oftmals Probleme sowohl bei der Patientenversorgung als auch für Zahnärzte, die nicht selten über schlechte Arbeitsbedingungen, überlange Arbeitszeiten, irreführende Werbung, Eingriffe in die Therapiefreiheit und mangelhafte Transparenz bei den Behandlungskosten berichten.

Zu hohe Preise, schlechte Qualität und dubiose Beratungsgespräche

Immer wieder tauchen in den britischen Medien Berichte von Patienten auf, die über zu hohe Preise, schlechte Qualität der Behandlungen und dubiose Beratungsgespräche in den zu einer Kette gehörenden Zahnarztpraxis berichten.

Trotzdem loben Politiker die Ketten immer wieder öffentlich

Während die negativen Schlagzeilen über die Zahnarztketten im Königreich nicht abreißen, loben britische Politiker die kontroversen Ketten immer wieder öffentlich. Als beispielsweise der britische Gesundheitsminister Hancock im Januar 2019 eine Privatpraxis in Mildenhall besuchte, sagte er, Unternehmen wie mydentist (mehr als 600 Praxen) trügen "einen wichtigen und wertvollen Teil" dazu bei, die britische Bevölkerung zahnärztlich zu versorgen. Die Äußerungen lösten einen Sturm der Entrüstung von enttäuschten Patienten aus.

Arndt Striegler, freier Journalist, London

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