zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Jenny Cohen – Zahnärztin in Westfalen, Emigration, Gesundheitspolitikerin in der DDR

Thorsten Halling
,
Matthis Krischel
Nach einer wechselvollen Emigrationsgeschichte, die sie als verfolgte jüdische Zahnärztin über die Niederlande, die Sowjetunion und Schweden führte, machte sich Jenny Cohen (1905–1976) in der DDR durch die Neuorganisation der Jugendzahnpflege und als Gesundheitspolitikerin einen Namen.

Jenny Cohen, geborene Philips, wurde in Wolbeck/Westfalen als Tochter eines Metzgers und Viehhändlers geboren. Nach dem Abitur in Münster studierte sie dort und in Würzburg Zahnmedizin, wurde 1929 approbiert und 1930 zur Dr. med. dent. promoviert. Nach mehreren Stationen als Assistentin und Vertreterin eröffnete sie im Sommer 1932 unweit ihres Geburtsortes in Herbern/Westfalen eine eigene Praxis, die sie aber bald nach Beginn der „Boykotte“ gegen jüdische Geschäfte und Praxen aufgeben musste. In dieser Zeit hatte sie sich vor allem praktisch der Kinderzahnheilkunde gewidmet. Sie emigrierte bereits Mitte 1933 in die Niederlande, wo sie als Hausangestellte ihren Unterhalt verdiente. Dort kam sie in Kontakt mit deutschen Kommunisten, zu denen auch Albert Cohen gehörte, den sie 1935 heiratete.1

Im Exil verdiente sie ihr Geld als Hausangestellte

In einem autobiografischen Kapitel erinnert sich Cohen an „Emigrationserlebnisse und Teilnahme am Aufbau eines neuen Gesundheitswesens“2 in der DDR. Bereits in der Studienzeit in der Weimarer Republik hätte es an der Universität Münster Antisemitismus und Deutschnationalismus gegeben. Gleichzeitig erinnert Cohen sich an Unterstützer, wie einen Oberarzt der Zahnklinik an der Universität Münster, der sie nach dem Beginn der antisemitischen „Boykotte“ 1933 anrief, um sich „nach ihrem Befinden zu erkundigen“. Dazu bemerkt Cohen: „Das war übrigens nicht der einzige Anruf solcher Art. Das gab mir auch in der damaligen depremierten Verfassung die Gewißheit, daß viele Menschen anständig geblieben waren und daß es den Nazis nicht gelungen war, das gesamte deutsche Volk irrezuführen.“3 Cohen berichtet auch während der Assistenzzeit einmal aus antisemitischen Gründen von einem Zahnarzt entlassen worden zu sein, der Mitglied der paramilitärischen, deutschnationalen Organisation Stahlhelm gewesen war. Ursprünglich als Veteranenorganisation des Ersten Weltkriegs gegründet hatte der Stahlhelm bereits 1924 jüdische Mitglieder ausgeschlossen.4

1936 ermöglichte die jüdische Fluchthilfeorganisation OSE den Cohens über die Schweiz und Österreich den Weg in die Sowjetunion, wo Jenny als Zahnärztin in einer Moskauer Poliklinik arbeitete. Wie viele deutsche Immigranten wurden das Ehepaar Cohen allerdings schon 1937 mit dem Vorwurf der Spionage wieder ausgewiesen. Anschließend fand die Familie in Schweden Aufnahme. Auch dort arbeitete Jenny Cohen zunächst in Stockholm als Hausangestellte und konnte erst ab 1942 im nordschwedischen Färila als Distriktzahnärztin für Volks- und Schulzahnpflege wirken. 1946 kehrte Albert Cohen in die Sowjetische Besatzungszone zurück, Jenny folgte ein Jahr darauf mit den beiden gemeinsamen Kindern.

Rückblickend beschreibt Cohen ihre Emigrationsgeschichte als eine Phase der permanenten Bedrohung: „Geringer Lohn, Unsicherheit, ob man einen anderen, wenn auch noch so bescheidenen Arbeitsplatz findet, Ungewißheit, ob die Aufenthaltserlaubnis verlängert wird, und die ständige Gefahr, in ein anderes Land abgeschoben zu werden, im schlimmsten Fall sogar nach Deutschland.“5

Personen wie die Cohens, die während der Zeit des Nationalsozialismus emigriert waren, wurden bis Ende der 1940er-Jahre gezielt in Führungspositionen in der SBZ/DDR eingesetzt. Neben Jenny Cohen arbeiteten in der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen sechs weitere Remigranten in leitenden Stellungen.6 Ihr Ehemann Albert Cohen wirkte als Ingenieur in der Wirtschaftsplanung und wurde 1950 Leiter der Hauptabteilung Wirtschaftliche Zusammenarbeit.7 Im Gegensatz zu Jenny wurde er aber Ziel der „Säuberungswellen“, die Anfang der 1950er-Jahre von der Zentralen Parteikontrollkommission der SED ausgingen. Diese entschied, er sei ein „Intellektueller, dem seine bürgerliche Herkunft noch stark anhaftet“ und damit „im Hinblick auf seine Herkunft, Entwicklung und familiäre Bindung nicht geeignet“ für eine politische Führungsrolle in der DDR.8 Mit familiärer Bindung kann hier gemeint sein, dass Albert Cohens Vater zeitweise in Israel gelebt hatte.

In der DDR als Referentin für Jugendzahnpflege

Jenny Cohens Karriere in der DDR verlief erfolgreicher.9 Sie war ab 1947 in der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen als Referentin für Jugendzahnpflege, ab 1949 im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR tätig. Zu ihren ersten Aufgaben dort gehörte die Mitarbeit an einem Gesetz zur Herstellung eines Einheitsstandes von Zahnärzten und Dentisten. In Sachsen hatte es bereits 1946 eine Einigung über die Bildung eines akademischen Einheitsstandes gegeben. Ein Jahr darauf kamen Vertreter der Zahnärzteschaft, der Dentisten und der zahnärztlichen Hochschullehrer in der SBZ in einem von Carl Coutelle, dem Leiter der Abteilung Medizinalberufe, und Jenny Cohen moderierten Gespräch zusammen. Nach Zeitzeugen sei es „vornehmlich dem Verhandlungsgeschick von Frau Cohen zu danken [...], dass es zwischen den Dentisten und Zahnärzten zur einvernehmlichen Verständigung kam.“10 Nach der Ausgestaltung der Überleitung der Dentisten in den akademischen Stand der Zahnärzte und der Zustimmung der Sowjetischen Militäradministration wurde im März 1949 eine neue Approbationsordnung für Zahnärzte in der DDR erlassen, die keine Dentisten mehr vorsah.

In der Folge übernahm Cohen 1953 die Leitung des Referats Zahnärztliche Versorgung, später des Sektors Stomatologie. Seit der Gründung 1950/1951 gehörte sie der Redaktion der Zeitschrift „Deutsche Stomatologie“ an, in der sie auch veröffentlichte. 1961 wurde Cohen Obermedizinalrat, 1962 erhielt sie die Anerkennung als Fachzahnärztin für Kinderzahnheilkunde, wobei unklar bleibt, ob sie noch praktisch tätig war. Gerade die auf Prävention setzende Kinderzahnheilkunde passte gut zu den sozialhygienischen Konzepten, die in der DDR verfolgt wurden.11 Ziel der Gesundheitsversorgung war eine „Einheit von Vorbeugung, Behandlung und Nachsorge“.12

Für ihre Verdienste um die zahnärztliche Prävention und den Einheitsstand von Zahnärzten und Dentisten wurde Cohen 1959 mit der Verdienstmedaille der DDR, 1960 mit der Hufeland-Medaille in Silber, 1965 mit dem Titel Verdienter Arzt des Volkes und 1972 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze ausgezeichnet.13 Noch über das Erreichen der Altersgrenze hinaus arbeitete Cohen bis 1972 für das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR.14 Sie verstarb 1976 in Berlin. 

„Der Platz der Intelligenz an der Seite der Arbeiter“

In ihrer autobiografischen Skizze, posthum 1982 in der DDR veröffentlicht, geschrieben zwischen 1966 und 1972, stellt sich Cohen als überzeugte Sozialistin dar. Beispielsweise berichtet sie, bereits während ihrer zahnärztlichen Tätigkeit in Westfalen habe sie von einem Bergarbeiter gelernt, dass „Rassenfragen, auch der Antisemitismus, mit dem ich ja bereits oft genug konfrontiert wurde, im Grunde genommen von der herrschenden Klasse benutzt werden, um von der Klassenfrage abzulenken“. In der Folge habe sie sich mit „einigen Zusammenhängen zwischen Politik und Ökonomie“ beschäftigt und sei als Absolventin der höheren Schule und Universität zu der Frage gelangt: „Ist der Platz der Intelligenz an der Seite der Arbeiter?“15 Gleichzeitig fällt auf, dass die antisemitische Diskriminierung thematisiert wird, die jüdische Religion in der Autobiografie aber keine Rolle spielt. An einer Stelle nennt Cohen als Grund für ihren Eintritt in die KPD 1937 die „zutiefst humanistischen Ziele der Partei“.16

Täter und Verfolgte

Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 10/2020 folgen Reinhold Ritter und Erich Kohlhagen, in der zm 11/2020 Wilhelm Gröschel und Engelbert Decker.

Die Lebensgeschichte von Jenny Cohen zeigt, dass Antisemitismus bereits in der Weimarer Republik existierte und Karrierewege beeinflusste. Cohens Emigrationsgeschichte verlief über viele unterschiedliche Etappen. Im Gegensatz zu vielen anderen aus Deutschland vertriebenen Personen kehrten die Cohens nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück und es gelang Jenny Cohen, in der SBZ und der DDR eine Karriere als Gesundheitspolitikerin zu machen. Damit bildet sie eine große Ausnahme.

Dr. Matthias Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin

Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de

1 Albrecht/Hartwig, 1982;

2 Cohen, 1982;

3 Ebenda, 117;

4 Rosenthal, 2007;

5 Cohen, 1982, 120;

6 Schleiermacher, 2009;

7 Scholz, 2000, 147;

8 Zitiert nach Scholz, 2000, 148;

9 Voigt/Voigt, 1981, unveröff. Manuskr.;

10 Künzel, 2013;

11 Ernst, 1997;

12 Schleiermacher, 2009, 83;

13 Albrecht/Hartwig, 1982;

V14 oigt/Voigt, 1981, 34;

15 Cohen,1982, 118;

16 Cohen,1982,  123

Literaturliste

1.  Dominik Groß: Zahnärzte als Täter. Zwischenergebnisse zur Rolle der Zahnärzte im „Dritten Reich“, Dt. Zahnarztl. Z. 73 (2018), 164-178

2.  Dominik Groß: Die Geschichte des Zahnarztberufs in Deutschland. Einflussfaktoren Begleitumstände. Aktuelle Entwicklungen, Berlin 2019, 163. ISBN: 978-3-86867-411-8

3.  Dominik Groß: Hermann Pook – der einzige in den „Nürnberger Prozessen“ angeklagte Zahnarzt, Zahnarztl. Mitt. 110 (1-2) (2020), 28-30

4.  Dominik Groß, Matthis Krischel: Zahnärzte als Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“. Hintergründe und Erläuterungen zur neuen zm-Reihe, Zahnarztl Mitt. 110 (1-2) (2020), 24-27

5.  Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“. Eine Bestandsaufnahme (= Medizin und Nationalsozialismus, 6), Berlin und Münster 2018. ISBN: 978-3-643-13914-6

6.  DZB 1938: Deutsches Zahnärzte-Buch (= Adresskalender der Zahnärzte im Deutschen Reich, 19). Teil C, Berlin 1938

7.  DZB 1941: Deutsches Zahnärzte-Buch (= Adresskalender der Zahnärzte im Deutschen Reich, 20) Teil C, Berlin 1941

8.  Alexander Heit, Jens Westemeier, Dominik Groß, Mathias Schmidt: “It's all over now.” The dentist Helmut Kunz and the killing of the children of Joseph Goebbels, Br. Dent. J. 227 (2019), 997-1000. DOI: 10.1038/s41415-019-0992-1 9.  Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich, Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003. ISBN 3-10-039310-4

10. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2013. ISBN 978-3-596-16048-8

11.  Christiane Rinnen, Jens Westemeier, Dominik Gross: Nazi dentists on trial. On the political complicity of a long-neglected group, Endeavor 44 (2020), doi.org10.1016/j.endeavour.2020.100710 12.  Silke Schäfer: Zum Selbstverständnis von Frauen im Konzentrationslager. Das Lager Ravensbrück. Diss. TU Berlin 2002

13.  Mathias Schmidt, Dominik Groß, Jens Westemeier: Dr. Hermann Pook – Leitender Zahnarzt“ der Konzentrationslager, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“. Eine Bestandsaufnahme (= Medizin und Nationalsozialismus, 6), Berlin und Münster 2018, 113-127. ISBN: 978-3-643-13914-6

14.  Enno Schwanke, Matthis Krischel, Dominik Groß: Zahnärzte und Dentisten im Nationalsozialismus. Forschungsstand und aktuelle Forschungsfragen, Medizinhist. J. 51 (2016), 2-39

15.  Walter Sonntag: Über die Lymphogranulomatose, Diss. Kiel 1933

16.  Walter Sonntag: Die Medizinalgesetzgebung seit 1933, Diss. München 1943

17.  Katrin Stoll: Walter Sonntag – ein SS-Arzt vor Gericht, ZfG 50/10 (2002), 918-939

18.  Jens Westemeier, Dominik Groß, Mathias Schmidt: Der Zahnarzt in der Waffen-SS – Organisation und Arbeitsfeld, in: Dominik Groß, Jens Westemeier, Mathias Schmidt, Thorsten Halling, Matthis Krischel (Hrsg.): Zahnheilkunde und Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme (= Medizin und Nationalsozialismus, 6). Berlin/Münster 2018, 93-112. ISBN: 978-3-643-13914-6

Thorsten Halling

Dr. Matthis Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

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