Der besondere Fall

Therapie einer skelettalen Klasse III mit einseitigem Kreuzbiss

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Die kieferorthopädische Therapie von Patienten mit einer Klasse-III-Malokklusion stellt eine Herausforderung für den Kieferorthopäden dar. Die Therapie sollte recht früh beginnen, um eine stabile Okklusion zu erzielen. Der folgende Fallbericht beschreibt eine kieferorthopädische Behandlung einer Klasse III mit einseitigem Kreuzbiss und einer Verlagerung des Zahnes 13.

Die Patientin stellte sich im Alter von acht Jahren in der Poliklinik für Kieferorthopädie der Universitätsmedizin Mainz vor. Extraoral zeigte sich eine mandibuläre Schwenkung mit einer Abweichung des Kinns nach rechts. Ein kompetenter Lippenschluss war bei der Patientin möglich (Abbildungen 1a und 1b). Die intraorale Untersuchung ergab ein Milchgebiss in der ersten Wechselgebissphase mit vorzeitigem Verlust des Zahnes 54 aufgrund von Karies sowie weitere kariöse Läsionen. Im Oberkiefer zeigte sich ein Mesialstand der Seitenzähne rechts und damit verbunden eine Lückeneinengung für Zahn 14 (Abbildungen 1e bis 1g).

Dental bestand im Molarenbereich rechts eine Klasse-II-Verzahnung um eine Viertel-Prämolarenbreite, eine Klasse-I-Verzahnung im Molarenbereich links sowie im Eckzahnbereich rechts und links. Es waren eine deutliche transversale Enge im Oberkiefer sowie ein Kreuzbiss rechtsseitig mit Zwangsbissführung sichtbar. Frontal lag eine negative sagittale Stufe von -1 mm sowie die Tendenz zur Bissöffnung vor (Abbildungen 1e bis 1g). Das Orthopantomogramm (OPG) zeigte eine Rotation des Zahnes 12 und eine Tendenz zur Retention des Zahnes 13 (Abbildung 1d). Die Auswertung des seitlichen Fernröntgenbildes (FRS) ergab eine skelettale Klasse III bei retrognathem Ober- und orthognathem Unterkiefer bei neutralem Wachstumsmuster mit vertikaler Tendenz.

Die Oberkieferfront war stark und die Unterkieferfront leicht protrudiert (Abbildung 1c).

Therapieziel

Das Ziel der Behandlung bestand in der transversalen Nachentwicklung des Oberkiefers, der Überstellung des seitlichen Kreuzbisses und der Beseitigung der mandibulären Mittellinienverschiebung. Durch die Förderung des sagittalen Wachstums der Maxilla sollte ein korrekter Overjet und durch die Extrusion der Frontzähne ein regelrechter Overbite hergestellt werden.

Behandlungsverlauf

Zunächst wurde eine Gaumennahterweiterungsapparatur (GNE) eingesetzt, um den Oberkiefer transversal nachzuentwickeln. Eine Woche später erfolgte der Einsatz einer Delaire-Maske, mit der Instruktion diese 16 Stunden pro Tag zu tragen. Nach fünf Monaten wurde die GNE entfernt und durch eine Oberkiefer-Platte ersetzt, um die Transversale zu halten. Der Zahnwechsel wurde weiter überwacht und nach zwei Jahren eine Zwischendiagnostik zur Reevaluation durchgeführt. Diese zeigte folgende Befunde (Abbildungen 2a bis 2e):

Der laterale Kreuzbiss war überstellt und die Unterkieferschwenkung beseitigt. Durch die sagittale Beeinflussung des Oberkieferwachstums entstand ein frontaler Kopfbiss (Abbildungen 2c bis 2e). Ferner kam es durch den Platzmangel im Oberkiefer zu einer deutlichen Mittellinienverschiebung nach rechts. Das OPG zeigte, dass der Zahn 13 deutlich verlagert und retiniert war (Abbildung 2b).

Reevaluation

Nach der Reevaluation erfolgte die Weiterbehandlung mit einer Multibracketapparatur in Ober- und Unterkiefer. Im Oberkiefer wurde eine Nance-Apparatur eingesetzt, um die Lücken für die Zähne 13 und 23 zu öffnen. Nach Lückenöffnung mit Sentalloy-Druckfedern und Mittellinienkorrektur im Oberkiefer konnte der freigelegte Zahn 13 eingeordnet werden (Abbildung 3).

Die Multibracketbehandlung dauerte 2,2 Jahre. Die Retention erfolgte im Oberund im Unterkiefer mit Kleberetainern (Abbildungen 4a bis 4g). Zusätzlich trug die Patientin nachts Retentionsplatten.

Die hauptsächlichen Therapieziele wurden erreicht. Die Position und der Torque des Zahnes 13 sowie der Overbite hätten noch optimiert werden können. Aufgrund mangelnder Mundhygiene wurde jedoch davon abgesehen, die Multibracketapparatur länger im Mund zu belassen.

Diskussion

Einseitige Kreuzbisse bei Kindern treten mit einer Inzidenz von 8,7 bis 23,3 Prozent auf [Langberg et al., 2005]. Die Ursachen für einen Kreuzbiss sind sowohl genetisch als auch durch äußere Einflüsse wie Habits bedingt [Marshall et al., 2007].

Abbildung 1 zeigt die typische Kreuzbisssymptomatik, eine Laterognathie zur Kreuzbissseite. Bei 80 Prozent der Patienten mit einseitigem Kreuzbiss entwickelt sich eine funktionelle Unterkieferabweichung [Kurol et al., 1992]. Hieraus kann eine asymmetrische Kiefergelenkkopfposition entstehen, wobei der kreuzbissseitige Kondylus nach kranial und dorsal (Kompression) und der kontralaterale Kondylus nach anterior und kaudal (Distraktion) bewegt wird [Lippold et al., 2008]. Der einseitige Kreuzbiss verbunden mit einem lateralen Zwangsbiss fördert eine adaptive Umformung der Gelenkköpfchen und ein asymmetrisches Wachstum des Unterkiefers.

Diese funktionelle Asymmetrie kann sich je nach Dauer bis hin zu einer Gesichtsskoliose entwickeln, die dann rein kieferorthopädisch nicht mehr therapierbar, sondern kombiniert kieferorthopädisch/kieferchirurgisch zu behandeln ist [Kahl-Nieke, 2008].

Aus diesen Gründen wird empfohlen, Kreuzbisse bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt als präventive Maßnahme, also im Milchbeziehungsweise frühem Wechselgebiss zu behandeln, um eine stärkere Ausprägung und Folgeschäden zu verhindern [Perttiniemi et al., 1990].

Zur Therapie eines Kreuzbisses sollte der Oberkiefer transversal nachentwickelt werden. Im vorliegenden Fall wurde dies mit einer GNE erreicht. Häufig führt schon die transversale Erweiterung des Oberkiefers als alleinige Maßnahme zu einer Beseitigung der skelettalen Asymmetrie des Unterkiefers [Hesse et al., 1997].

Die Behandlung der Progenieformen (Angle-Klasse III) sollte ebenso wie die Behandlung des lateralen Kreuzbisses möglichst früh begonnen werden [Saadia et al., 2000]. Die Häufigkeit der Klasse III variiert stark nach ethnischer Zugehörigkeit und liegt zwischen 0,6 Prozent bis 13 Prozent [Droschl, 2000].

Es werden vier Formen der Progenie unterschieden: die echte Progenie, die Pseudoprogenie, der progene Zwangsbiss und der frontale Kreuzbiss. In Abhängigkeit von der jeweiligen Progenieform sollte das Oberkieferwachstum stimuliert und das Unterkieferwachstum gehemmt werden, die Oberkieferinzisiven protrudiert und die Unterkieferinzisiven retrudiert werden. Je nach Alter des Patienten und Schweregrad der Dysgnathie können unterschiedliche Geräte zur Therapie der Progenie eingesetzt werden. Bei frühem Behandlungsbeginn eignen sich funktionskieferorthopädische Apparaturen (wie zum Beispiel der Funktionsregler Typ III nach Fränkel, FR III). Als weitere Möglichkeit der Therapie werden Kopf-Kinn-Kappen eingesetzt, die dem Unterkieferwachstum entgegenwirken sollen. Jedoch zeigte sich, dass sich diese Richtung der Krafteinwirkung häufig negativ auf die Kiefergelenke auswirkt. Eine Wachstumsförderung der Maxilla in sagittaler Richtung ist durch die Verwendung der Delaire-Maske möglich. Eine, wie in diesem Fall beschriebene, vorangegangene GNE führt zu einer Schwächung der Oberkieferbasis und erleichtert die Mobilisation in ventraler Richtung durch die Delaire-Maske [da Silva et al, 1998]. Ein deutlich größerer skelettaler Behandlungseffekt kann zudem bei Patienten erreicht werden, die jünger als acht Jahre sind [Jäger et al. 2001].

Bei den unterschiedlichen Formen des progenen Formenkreises ist der Erfolg der Therapie neben der Compliance des Patienten stark vom Wachstumsverlauf abhängig. Bei ungünstigem Wachstum oder zu spätem Behandlungsbeginn kann die Therapie der skelettalen Klasse III häufig nur noch kombiniert kieferorthopädisch/kieferchirurgisch erfolgen.

Dr. med. dent. M. GutschDr. med dent. C. ErbeProf. Dr. Dr. H. WehrbeinPoliklinik für KieferorthopädieUniversitätsmedizin MainzAugustusplatz 255131 Mainzgutsch@kieferortho.klinik.uni-mainz.de

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