Das Problem ist eine potenzielle Fehldeutung
Auch die DGZMK hat eine Stellungnahme abgegeben mit der Empfehlung, die Latte bei der Einbeziehung von Studien niedriger zu legen und von dem Ansatz der „bestmöglichen“ auf den der „bestverfügbaren“ Evidenz überzugehen. Da der IQWiG-Bericht das Potenzial gefährlicher versorgungspolitischer Interpretationen birgt, waren die kritischen Reaktionen der Zahnärzte angemessen und notwendig. So weit, so gut.
Man könnte aktuell nun durchaus zu der Auffassung kommen, dass eine evidenzmedizinische Methodik für die Zahnmedizin nicht passfähig und eigentlich nur schädlich sei. Bei näherem Hinschauen ist es allerdings nicht ganz so einfach. Aus wissenschaftlicher Sicht kommt man relativ schnell zu einer ambivalenten Haltung. Jeder Wissenschaftler kennt das hohe Verzerrungspotenzial bei klinischen Studien. Stellen Sie sich vor, man würde retrospektiv zwei Patientenkohorten zur Nutzenbewertung von herausnehmbarem Teilersatz auswerten. In der einen Gruppe waren die Patienten mit Modellgussprothesen, in der anderen mit Teleskopprothesen versorgt worden. Gehen wir davon aus, dass die Therapieentscheidung auf den in Deutschland üblichen Indikationskriterien beruhte. Sollte sich im Ergebnis letztlich eine deutliche Unterlegenheit der Modellgussprothese zeigen, so würde dies keinesfalls bedeuten, dass dieser Zahnersatz auch wirklich schlechter wäre, da wahrscheinlich die Pfeilerwertigkeit bei der Modellguss- prothese geringer war und sich die Patientengruppen auch noch bezüglich anderer Merkmale wie Sozialstatus und Mundhygiene unterscheiden könnten. Der Vergleich zwischen den beiden Therapieformen ist streng genommen gar nicht zulässig. Evidenzbasierte Medizin zielt darauf ab, durch Evidenzbewertung möglichst valide Informationen für die klinische Praxis zu generieren. Aus dieser Perspektive ist es durchaus sinnvoll, dabei randomisierte kontrollierte Studien, also hochrangige Evidenz, heranzuziehen.
Oft fehlen umsetzbare Studiendesigns ...
Leider müssen wir feststellen, dass derartige Studien nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen. Dieser Mangel an Evidenz in der Zahnmedizin hat vielerlei Gründe. Sie liegen nicht nur in der vermeintlichen Inaktivität der zahnmedizinischen Wissenschaft. Festzustellen ist auch ein gesellschaftspolitisches Zurückbleiben der Zahnmedizin hinter der Medizin, das letztlich zu einer Unterförderung und zu einer geringen Zahl von hochrangigen klinischen Studien führt. Zu nennen ist auch die Schwierigkeit, geeignete, praktisch umsetzbare Studiendesigns zu finden. Oft ist eine Behandlung die Summe vieler verschiedener Einzelmaßnahmen, deren isolierter Nutzen auch in gut angelegten Studien kaum feststellbar sein wird. Patientenrelevante Endpunkte wie Zahnverlust erfordern lange Beobachtungszeiten. Bestimmte Fragen lassen sich auch aus ethischer Sicht nicht angemessen beforschen. Bei anderen gibt es einem durchaus zu denken, warum es weltweit keine entsprechenden Studien gibt. Diese Sachlage führt dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit dazu, dass evidenzbasierte Aussagen zum Nutzen nur sehr beschränkt möglich sind.
... und die richtigen Schlussfolgerungen!
Das zentrale Problem, das wir gerade am Beispiel der Parodontitistherapie diskutieren, ist aber nicht das Ergebnis, sondern dessen Interpretation. Denn die Aussage eines nicht nachweisbaren Nutzens bedeutet nicht, dass dieser Nutzen nicht in der Realität doch bestünde. Das Problem ist eine potenzielle Fehldeutung und die Verwertung derartiger Ergebnisse für versorgungspolitische Entscheidungen. Oft wird fehlende Evidenz für ein Verfahren dahin gehend interpretiert, dass es nicht wirksam und damit klinisch auch nicht indiziert sei. Das ist so nicht richtig. Evidenzbasierte Medizin bedeutet, dass neben der bestverfügbaren externen Evidenz auch die persönliche Expertise des Arztes und die Patientenpräferenzen für die Entscheidung herangezogen werden. Würden wir diesen Ansatz nicht täglich praktizieren, wäre eine zahnmedizinische Therapie in vielen Fällen gar nicht mehr möglich.
Wie auf allen Gebieten der Medizin gibt es allerdings auch in der praktizierten Zahnmedizin Maßnahmen von tatsächlich fraglichem Nutzen: Jedem von uns wird eine Reihe von derartigen Behandlungen auf Anhieb einfallen. Hier kann der Ansatz der evidenzbasierten Medizin außerordentlich hilfreich sein, um tradierte, nicht belegte Maßnahmen durch solche mit nachgewiesener Wirksamkeit zu ersetzen.
Das Problem der fehlenden Evidenz ist also ein vielschichtiges; und Nutzenbewertungen auf einem hohen Evidenzniveau sind per se nicht unsinnig. Sie werden erst dann schädlich, wenn sie auf verschiedenen Ebenen falsche Schlussfolgerungen befördern und dazu führen, dass nachgewiesenermaßen wirksame Behandlungen nicht mehr durchgeführt beziehungsweise der Bevölkerung vorenthalten werden. Daher sollten auch Nutzenbewertungen auf die bestverfügbare Evidenz zurückgreifen. Jenseits von Nutzenbewertung, IQWiG und G-BA kann evidenzbasierte Zahnmedizin dazu beitragen, unser Fach voranzubringen und Qualität zu fördern. Lassen Sie uns also trotz allem aufgeschlossen sein in der Einordnung evidenzmedizinischer Ansätze.