Migration als Risikofaktor für schlechtere Mundgesundheit
Migration ist ein zentrales Thema in der deutschen Gesellschaft und prägt das Land seit Jahrzehnten in vielfältiger Weise. Schon in den 1950er-Jahren wurden sogenannte Gastarbeiter aus Ländern wie Italien, der Türkei und Griechenland nach Deutschland eingeladen, um beim wirtschaftlichen Aufbau mitzuwirken.
In den letzten Jahren hat das Thema Migration vor allem durch Fluchtbewegungen, zum Beispiel im Zuge des Syrienkriegs oder der politischen Instabilität in anderen Regionen, erneut große Aufmerksamkeit erhalten. Besonders 2015 und 2016 kam es zu einem starken Anstieg der Zuwanderung. Deutschland profitiert als Einwanderungsland in vieler Hinsicht von Migration. Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel in vielen Branchen machen qualifizierte Zuwanderung notwendig. Viele von ihnen arbeiten in sozialen Berufen oder leisten wichtige Beiträge im Gesundheitswesen.
Migrationsgeschichte und gesundheitliche Probleme
Ein bedeutender Aspekt ist die körperliche Gesundheit von Migrantinnen und Migranten – unabhängig von ihrem Migrationshintergrund. Menschen, die im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland kamen, haben häufig jahrzehntelang in körperlich anstrengenden Berufen gearbeitet. Viele von ihnen leiden im Alter unter chronischen Erkrankungen wie Rückenleiden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Gleichzeitig nutzen sie Gesundheitsangebote seltener, teils wegen der Sprachbarrieren, teils aus kulturellen oder strukturellen Gründen.
Auch die Gruppe der Spätaussiedler, vor allem aus Russland, der Ukraine und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bringt spezifische gesundheitliche Probleme mit. Viele von ihnen sind in ländlichen oder industriell belasteten Regionen aufgewachsen, wo die medizinische Versorgung eingeschränkt war. Studien zeigen, dass Spätaussiedler häufiger unter chronischen Erkrankungen, Stoffwechselstörungen oder Zahnproblemen leiden. Gleichzeitig gibt es auch hier Zugangshürden zum deutschen Gesundheitssystem – insbesondere bei älteren Menschen, die mit der Sprache, Bürokratie oder neuen medizinischen Strukturen Schwierigkeiten haben. Auch kulturelle Unterschiede im Umgang mit Prävention oder Arztbesuchen spielen eine Rolle.
Bei neu zugewanderten Geflüchteten stehen wiederum andere gesundheitliche Herausforderungen im Vordergrund. Viele waren auf der Flucht extremen körperlichen Belastungen, Mangelernährung oder unzureichender medizinischer Versorgung ausgesetzt. Dadurch treten bei dieser Gruppe häufiger akute Infektionen, unbehandelte Vorerkrankungen oder mangelhafter Impfschutz auf.
Laut neuester Auszählungen des Statistischen Bundesamts machten Menschen mit Migrationsgeschichte 2023 mit rund 21,2 Millionen ein Viertel der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus.
Der Begriff „Menschen mit Migrationsgeschichte“ umfasst alle Menschen, die selbst nicht in Deutschland geboren wurden (Eingewanderte, 1. Generation) und/oder deren beide Elternteile nicht in Deutschland geboren wurden (direkte Nachkommen Eingewanderter, 2. Generation).
Vor diesem Hintergrund hat es sich die DMS • 6 zur Aufgabe gemacht, das Mundgesundheits- und Inanspruchnahmeverhalten, die Prävalenzen einzelner oraler Erkrankungen und deren Versorgung für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte gleichermaßen zu erfassen.
Die in der DMS • 6 untersuchten Altersgruppen im Zusammenhang mit Migrationsgeschichte waren die älteren Kinder (12-Jährige), die jüngeren Erwachsenen (35- bis 44-Jährige) und die jüngeren Seniorinnen und Senioren (65- bis 74-Jährige). Über alle Altersgruppen hinweg war der Anteil der Studienteilnehmenden mit einem beschwerdeorientierten Inanspruchnahmeverhalten zahnärztlicher Leistungen bei Menschen mit Migrationsgeschichte höher: 18 versus 2 Prozent für die älteren Kinder, 25 versus 9 Prozent für die jüngeren Erwachsenen und 25 versus 11 Prozent für die jüngeren Seniorinnen und Senioren.
Unterschiede gibt es in allen Altersgruppen
Im Hinblick auf die Zahnputzhäufigkeit zeigte sich insbesondere bei den älteren Kindern ein höherer Anteil mit Migrationsgeschichte im Vergleich zu ohne Migrationsgeschichte, die sich seltener als zweimal täglich die Zähne putzen (29 versus 11 Prozent). Ältere Kinder und jüngere Erwachsene mit Migrationsgeschichte hatten mehr kariöse Zähne als Gleichaltrige ohne Migrationsgeschichte (Kinder: 0,4 Zähne versus 0,1 Zähne und Erwachsene: 0,8 Zähne versus 0,3 Zähne) und einen niedrigeren Karies-Sanierungsgrad (68 versus 77 Prozent beziehungsweise 87 versus 96 Prozent).
Bei den jüngeren Seniorinnen und Senioren hatten Menschen mit Migrationsgeschichte weniger kariöse Zähne (0,3 versus 0,4), eine höhere Prävalenz von Zahnlosigkeit (9 versus 4 Prozent), mehr fehlende Zähne (9,8 versus 8,3) und weniger gefüllte Zähne (7,9 versus 8,9) als Menschen ohne Migrationsgeschichte. In allen Altersgruppen wiesen Menschen mit Migrationsgeschichte auch höhere Plaquewerte auf, wobei der Unterschied bei Kindern am größten war (Kinder: 62 versus 48 Prozent, Erwachsene: 49 versus 41 Prozent und Seniorinnen und Senioren: 49 versus 43 Prozent). Entsprechend wurden höhere Prävalenzraten für Zahnfleischbluten und klinisches Attachment-Level ≥3 mm bei Erwachsenen beziehungsweise Seniorinnen und Senioren mit Migrationsgeschichte beobachtet.
In sämtlichen drei Altersgruppen wurden Differenzen in den Krankheits- und Versorgungsprävalenzen zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte festgestellt. Die Auswertung ergab, dass die Menschen mit Migrationsgeschichte eine höhere Prävalenz oraler Erkrankungen aufwiesen und ein eher beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten zahnärztlicher Dienstleistungen zeigten. Es handelt sich hierbei um die ersten bundesweit repräsentativen Untersuchungsergebnisse.
Eigenständiger Risikofaktor für schlechtere Mundgesundheit
Bemerkenswert ist, dass sich hinsichtlich der Erkrankungen fast durchgängig ein linearer Gradient entlang der Migrations-Generationen darstellte, in dem Sinne, dass die größten Mundgesundheitseinschränkungen bei Menschen mit Migrationsgeschichte der ersten Generation gefunden wurden, gefolgt von Menschen, die selbst hierzulande geboren sind, aber deren beide Elternteile immigriert sind (2. Generation), gefolgt von Menschen ohne Migrationsgeschichte.
Selbst nach Berücksichtigung (statistischer Adjustierung) von Faktoren wie Alter, Geschlecht und Bildungsstand wiesen Menschen mit Migrationsgeschichte immer noch mehr Zahnbelag, mehr Zahnfleischbluten und mehr Karies auf. Außerdem putzten sie ihre Zähne seltener und klagten häufiger über Zahnprobleme.
Vor diesem Hintergrund betrachten wir aktuell Migrationsgeschichte als eigenständigen Risikofaktor für schlechtere Mundgesundheit. Unsere DMS-6-Spezialisten für Migrationsforschung haben daher folgende Schlussfolgerungen zu den Ergebnissen der Studie gezogen:
„Nach aktuellem Kenntnisstand handelt es sich bei dieser Studie um die erste groß angelegte Kohortenstudie, die den Zusammenhang zwischen Migrationsgeschichte und verschiedenen mundgesundheitsbezogenen Merkmalen altersübergreifend untersucht. Es zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Migrationsgeschichte und einem schlechteren Mundgesundheitszustand sowie einem schlechteren Mundgesundheitsverhalten – selbst nach Adjustierung für Alter, Geschlecht und Bildung."
Diese Ergebnisse weisen auf die Bedeutung der Migrationsgeschichte als zentralen Einflussfaktor auf die Mundgesundheit hin und verdeutlichen die Notwendigkeit gezielter Maßnahmen zu ihrer Verbesserung: "Zukünftige Forschung sollte sich verstärkt auf migrationsbezogene Faktoren, Gesundheitskompetenz und gesundheitsbezogenes Verhalten konzentrieren, um die beobachteten Unterschiede besser zu erklären und gezielte Präventions- und Versorgungsangebote für Menschen mit Migrationsgeschichte entwickeln zu können.“
Fazit
Migrantinnen und Migranten sind gesundheitlich oft benachteiligt. Eine bessere Aufklärung, kultursensible medizinische Versorgung, mehrsprachige Informationsangebote sowie ein einfacher Zugang zu Vorsorge und Therapie sind entscheidend, um gesundheitliche Ungleichheiten abzubauen und die körperliche Gesundheit aller in Deutschland lebenden Menschen zu fördern.