Aussetzer bei der Videosprechstunde machen Arzt unsympathisch
Videoanrufe sind mittlerweile in fast allen Bereichen des modernen Lebens zum Standardkommunikationsmittel geworden: Vorstellungsgespräche, Arztkonsultationen und in anderen Ländern sogar Gerichtsverhandlungen werden heute online durchgeführt. Technische Störungen sind dabei systemimmanent und werden oberflächlich betrachtet akzeptiert und oft auch ignoriert.
Jetzt zeigt jedoch eine Metaanalyse der Columbia Business School, Cornell University und University of Missouri-Kansas City (USA), dass selbst winzige, flüchtige audiovisuelle Störungen unsere Beurteilung der Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms erheblich beeinträchtigen. Das fanden Forschende bei der Auswertung von zehn Studien heraus, in denen sowohl Archivdaten als auch kontrollierte Experimente durchgeführt wurden.
Der Grund dafür ist eine subtile Wahrnehmungsreaktion: Störungen zerstören die Illusion der persönlichen Anwesenheit und erzeugen ein Gefühl von „Unheimlichkeit“, das das Vertrauen, die Sympathie und letztlich auch wichtige Entscheidungen untergräbt.
Die Betroffenen fühlen sich weniger gehört und gemocht
Erstautorin Prof. Melanie Brucks und ihr Team verwendeten einen multimethodischen Ansatz, der reale Gespräche, kontrollierte Experimente und institutionelle Settings umfasste, in denen derartige Beeinträchtigungen folgenschwer sein können.
Sie begannen mit einer Archivdatenbank mit 1.645 Videogesprächen und stellten fest, dass Menschen, die Störungen erlebten, ihre Gesprächspartner weniger mochten, sich weniger „gehört“ fühlten und von einer schwächeren sozialen Verbindung berichteten, selbst wenn die Störung nur kurz war.
Selbst kurze Störungen in Gesprächspausen haben Effekte
Als Nächstes führte das Team eine Reihe streng kontrollierter Experimente in den Bereichen Telemedizin, Finanzberatung und Vorstellungsgespräche durch. Durch das Einfügen kurzer, weniger als eine Sekunde dauernder Störungen während natürlicher Sprechpausen stellten sie sicher, dass keine Informationen verloren gingen und nur die audiovisuelle Flüssigkeit gestört wurde. Dennoch bewerteten die Teilnehmer die Kommunikatoren negativer, wenn Störungen auftraten, schreiben die Forschenden.
Um tiefer in die Materie einzusteigen, entwickelten die Forscher eine Taxonomie von zehn häufigen Untertypen von Störungen und führten eine Studie durch, um zu bewerten, wie „unheimlich“ sich jede einzelne anfühlte. Diese Bewertungen wurden später verwendet, um Einstellungsbewertungen vorherzusagen. Um schließlich die realen Konsequenzen zu untersuchen, analysierten sie die Protokolle von 472 per Videocall durchgeführten Bewährungsanhörungen auf Störungen.
Das Team führte auch qualitative Interviews mit erfahrenen Vertriebsfachleuten durch, wobei sich herausstellte, dass die weit verbreitete Meinung herrscht, dass Störungen harmlos sind, obwohl die Daten etwas anderes zeigten.
Unterbrechungen zerstören die Illusion eines echten Gesprächs
In allen Studien zeigte sich ein klares Muster: Störungen führen durchweg dazu, dass die Kommunikatoren den Call schlechter bewerten, selbst wenn das Verständnis nicht beeinträchtigt war: Die Menschen vertrauten Telemedizin-Anbietern weniger, waren weniger geneigt, Bewerber einzustellen, und waren weniger bereit, mit Finanzberatern zusammenzuarbeiten, nachdem sie störungsbehaftete Videos gesehen hatten.
Dahinter steckte ein Gefühl der „Unheimlichkeit“, ein Wahrnehmungsruck, der auftritt, wenn etwas an einem menschlichen Gesicht oder einer Stimme plötzlich von dem abweicht, was sich natürlich anfühlt. Dieses unheimliche Gefühl zerstörte die Illusion der menschlichen Präsenz in Echtzeit und übertrug sich auf die Beurteilung.
Dabei waren nicht alle Störungen gleich: Die Forscher stellten auffällige Unterschiede darin fest, wie unheimlich verschiedene Verzerrungen empfunden wurden. Ein sehr kurzes Einfrieren des Bildes – von weniger als einer Sekunde – gehörte zu den beunruhigendsten Störungen, sogar mehr als Bildprobleme, die mehrere Sekunden dauerten.
Der beste Prädiktor für negative Bewertungen war nicht die Art der Störung (Audio versus Video) oder wie störend sie erschien, sondern wie unnatürlich sie sich „anfühlte“. Störungen mit Audioausfall hatten den zusätzlichen Nachteil, dass sie das Verständnis beeinträchtigten.
Störungen können Gefangene die Bewährung kosten
Bei Anhörungen zur Bewährungsentscheidung, bei denen technische Störungen auftraten, war die Wahrscheinlichkeit einer Bewährungsentscheidung um 12 Prozentpunkte geringer als bei Anhörungen ohne Störungen – obwohl alle Teilnehmer das gleiche institutionelle Internet nutzten, so dass die Störungen im Wesentlichen zufällig auftraten.
„Wir haben festgestellt, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer Störung während der Interaktion und der Wahrscheinlichkeit gab, dass dieser Person am Ende des Tages Bewährung gewährt wurde. Das ist wirklich beängstigend, denn diese Person hatte keinen Einfluss darauf, ob eine Störung auftreten würde“, betonte Brucks.
Die Forschenden fanden auch heraus, dass Störungen nur dann eine Rolle spielten, wenn ein Anruf ein Gefühl der direkten sozialen Präsenz erzeugte. Wenn die Teilnehmer eine Bildschirmfreigabe oder eine Präsentation sahen, empfanden sie die Störungen nicht als unheimlich und sie beeinträchtigten die Bewertungen nicht – was unterstreicht, dass die Verzerrung eines menschlichen Gesichts oder einer menschlichen Stimme für den beobachteten Effekt verantwortlich ist.
Eine schlechte Internetqualität erhöht das Pannenrisiko
Die Forschenden leiten aus in ihren Beobachtungen auch einen politischen Handlungsdruck ab, da sich daraus Hinweise für eine Benachteiligung finanziell schwacher Bevölkerungsteile ergeben.
„Während Videoanrufe oft als Mittel zur Verbesserung des Zugangs dargestellt werden, bedeutet eine ungleiche Internetqualität, dass Personen mit weniger Ressourcen eher mit Störungen konfrontiert sind und daher einer stärkeren negativen Beurteilung ausgesetzt sind“, schreiben sie.
Im Laufe der Zeit könne dies zu weniger Stellenangeboten, schlechteren medizinischen Erfahrungen oder unfairen rechtlichen Entscheidungen führen. Gerichte und Krankenhäuser benötigen möglicherweise klarere Standards dafür, wann Remote-Formate angemessen sind, argumentieren sie. Und da Kommunikationstechnologien durch Künstliche Intelligenz (KI), Virtual Reality (VR) und holografische Darstellungen immer hyperrealistischer werden, könnten Störungen noch unheimlicher werden.
„Während wir über alle Fragen der KI und deren Integration nachdenken, glaube ich nicht, dass viele Menschen über die möglichen Folgen eines zunehmenden Realismus nachdenken, nämlich dass es die Situation noch unheimlicher und unangenehmer machen könnte, wenn etwas schiefgeht, was unvermeidlich ist“, sagte Brucks.
<footnote>Störungen würden vielleicht nie ganz verschwinden, aber das Bewusstsein für ihre Auswirkungen könne dazu beitragen, dass sie nicht unbemerkt lebensverändernde Entscheidungen beeinflussen.</footnote>
Brucks, M.S., Rifkin, J.R. & Johnson, J.S. Video-call glitches trigger uncanniness and harm consequential life outcomes. Nature (2025). https://doi.org/10.1038/s41586-025-09823-0









