Training für die Oberhand
Als Klingert noch als angestellter Zahnarzt in der Nähe des Frankfurter Bahnhofsviertels arbeitete, kam es regelmäßig zu unangenehmen bis bedrohlichen Situationen. Die Hemmschwelle der Patienten schien zunehmend zu sinken, sie wurden laut, sobald ihnen etwas nicht passte, akzeptierten schwer ein „Nein“.
Seine Erfahrungen sind kein Einzelfall. Je nach Befragung und Betrachtungszeitraum erleben sechs bis acht von zehn Beschäftigten in Zahnarztpraxen verbale Attacken in ihrem Berufsalltag. Körperliche Angriffe sind mit drei bis sechs Prozent deutlich seltener. Diese passieren insbesondere während des Notdienstes oder in stressbelasteten Situationen. Laut einer Mitgliederbefragung der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt von 2023 haben 44 Prozent der Befragten konkrete Sicherheitsbedenken beim zahnärztlichen Notdienst in der Nacht, an Wochenenden oder Feiertagen.
Doch vor allem Drohungen gegenüber dem Praxisteam gehören mittlerweile zum Alltag. Laut einer Online-Umfrage der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayerns wurden von den knapp 300 teilnehmenden Zahnärzten, Zahnärztinnen und ZFAs 73 Prozent schon einmal beleidigt, verbal oder sogar physisch angegriffen. Insgesamt habe die Aggressivität der Patienten seit der Pandemie merklich zugenommen. Viele kämen bereits „geladen“ in die Praxis, der Ton sei rauer, der Umgang respektloser geworden. Zudem würden immer mehr Patienten nur ihre eigene Situation wahrnehmen, jedoch kein Verständnis für die Gesamtsituation aufbringen. Selbst die freundlichsten Erklärungsversuche stießen immer wieder auf Unhöflichkeit und konsequenten Widerspruch. Reagiert man darauf mit einem Praxisverweis, drohten die Patienten mit negativen Google-Rezensionen, einem schlechten Leumund oder scharfen E-Mails.
All diese Erfahrungen machte auch Klingert. Nun ist der 37-Jährige ein groß gewachsener Mann, der seit vielen Jahren Ving Tsun (Wing Chun) trainiert – eine Kampfkunst des Kung Fu, bei der es mehr um Selbstverteidigung als um den Wettkampf geht und bei der man den Angreifer mit kleinen gezielten Bewegungen unter Kontrolle bringt.
Ving Tsun habe ihm geholfen, ein Gespür für bestimmte Situationen zu entwickeln, eine „Situational Awareness“, erzählt Klingert: „Man erkennt irgendwann anhand von Körpersprache, Gestik, Mimik und Verhaltensmustern gewisse Absichten und kann Konflikte gleichsam vorhersagen. Das Wissen um die eigenen körperlichen Fähigkeiten trägt zu einer gewissen Ausstrahlung bei, die konfliktabweisend wirken kann.“
Da er abseits vom Training in seiner zehnjährigen Berufserfahrung oft die Taktiken der Kampfkunst anwenden musste, beschloss er schließlich, sich an seinem Arbeitsplatz selbst um die Gefahren- und Gewaltprävention zu kümmern. „Aus dem Internet angeeignetes zahnmedizinisches Halbwissen, kulturelle Unterschiede und eine gesunkene Hemmschwelle für Gewalt sind einige der Gründe für die entstandene Problematik“, führt Klingert aus. Zusammen mit seinem Kampfkunsttrainer Sigung Markus Hering, der seit vielen Jahren Behörden zur Deeskalation bei aggressivem Verhalten und Gewalt schult, entwickelte er ein praxisnahes Konzept. So entstand KITT: Konflikt, Intervention, Team und Taktik.
Das Unwohlsein steigt
Im vergangenen Herbst veröffentlichte der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) Zahlen, wonach 49 Prozent der Zahnärztinnen und Zahnärzte verbale Übergriffe in der Praxis erlebt haben. Fast 25 Prozent berichteten, dass sie mindestens einmal im Monat oder häufiger mit verbalen Angriffen konfrontiert seien, 3,5 Prozent waren in diesem Zeitraum Opfer körperlicher Übergriffe. Gut 34 Prozent waren mehrmals im Jahr übergriffigem Verhalten ausgesetzt.
Auffällig ist, dass verbale Angriffe häufig keine formalen Konsequenzen nach sich ziehen, während bei physischen Übergriffen oder Sachbeschädigung die Polizei eingeschaltet und rechtliche Schritte eingeleitet werden: 23 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die Taten sofort der Polizei gemeldet haben, 35 Prozent unternahmen formal nichts, 38 Prozent vermerkten den Vorfall nur intern oder trugen ihn an die Praxisleitung heran.
Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit zählen strengere Strafen für Angreifer und gezielte Schulungen für Praxisteams im Umgang mit Gewalt: Rund 34 Prozent der Befragten halten Hilfe von professionellen Beratungsdiensten für erforderlich, 46 Prozent setzen auf bessere Sicherheitsvorkehrungen in der Praxis, 65 Prozent auf Schulungen zum Umgang mit Gewalt für das Praxispersonal. Mit 87 Prozent fordert eine große Mehrheit härtere Strafen für die Angreifer.
Der FVDZ hat die Mitgliederumfrage vom 20.08.2024 bis zum 20.09.2024 durchgeführt. Die Ergebnisse sind online verfügbar: <link url="https://www.fvdz.de/presse-publikationen/fvdz-aktuell-aktuelle-ausgabe/umfrage-zur-gewalt-in-der-zahnarztpraxis" target="new-window" url-fragment="" seo-title="" follow="follow">www.fvdz.de/presse-publikationen/fvdz-aktuell-aktuelle-ausgabe/umfrage-zur-gewalt-in-der-zahnarztpraxis
KITT schult das Team in seiner „Situational Awareness“. Konkret helfen Klingert und sein Partner dabei, Strategien zu entwickeln, um Auseinandersetzungen und Spannungen souverän zu aufzulösen – im Optimalfall vor dem eigentlichen Konflikt, im Notfall auch mit effektiven Selbstverteidigungstechniken. „Ving Tsun eignet sich dafür besonders gut, weil es von einer Frau entwickelt wurde und explizit Techniken für Schwächere gegen Stärkere verwendet“, erläutert Klingert. „Gewaltprävention mithilfe von Ving Tsun ist eine Kombination aus körperlicher Selbstverteidigung, mentaler Stärke und der Vermittlung von Strategien zur Vermeidung von Konflikten. Ziel ist auch hier, Gewalt zu verhindern oder zu verringern.“
So bleiben Sie souverän
Bleiben Sie beim „Sie“ und verwenden Sie keine herablassende Sprache – auch bei geistiger Überlegenheit: „Du Piesepampel“ rutscht schneller heraus als „Sie Piesepampel“.
Versuchen Sie freundlich, aber bestimmt zu sein: „Gerne kümmern wir uns um Ihr Anliegen. Nehmen Sie bitte so lange im Wartezimmer Platz“. Sie bestimmen den Ort der Konfrontation!
Halten Sie Blickkontakt, ohne zu starren. Richten Sie den Blick auf den Bereich zwischen Augen und Mund. Spitzt sich die Situation zu, richten Sie den Blick auf Augenhöhe und Stirn, nicht aber unterhalb der Augenhöhe.
Halten Sie Abstand, mindestens eine Armlänge, und nehmen Sie die Arme tendenziell nach oben. Lassen Sie so niemals das Eindringen in Ihren persönlichen Bereich zu. Treten Sie, wenn nötig, einen Schritt zurück oder hinter die Rezeption. Lassen Sie auch im Gespräch die Arme und Hände nicht unter Brusthöhe fallen. Somit sind die Hände immer bereit für den Schutz des Kopfes – oder für einen Angriff.
Hören Sie bei jeglichen Warnzeichen auf Ihr Bauchgefühl. Das ungute Gefühl in bestimmten Situationen oder mit Personen ist instinktgesteuert, also angeboren, und liegt zumeist richtig. Intervenieren Sie direkt oder alarmieren Sie Hilfe.
Das Training findet idealerweise in den Praxen selbst und mit dem gesamten Team statt, denn jede Praxis ist anders aufgestellt und hat individuelle Räumlichkeiten, die Vor- oder Nachteile haben bezüglich Fluchtwege und Schutz.
Das Team als „Stroke Unit“
Wichtig ist Klingert, dass das gesamte Team einbezogen wird – damit sich jeder mit den möglichen Gefahrensituationen auseinandersetzt und im Fall der Fälle jeder weiß, welche Aufgabe er oder sie hat, und die Mannschaft möglichst besonnen und koordiniert reagiert. „Das ist wie bei einer Erste-Hilfe-Schulung oder einer Stroke-Unit in der Klinik: Jeder weiß, was zu tun ist und alles ist vorbereitet“, so der Zahnarzt.
Der Silvester-Patient
Ein Patient wird bei einer Kollegin mit einer ausgefallenen Zahnhalsfüllung und Schmerzen vorstellig. Sie beseitigt die Ursache durch eine neue Zahnfüllung und beendet die Behandlung, als der Patient eine generelle Routinekontrolle für sein Bonusheft fordert. Am letzten Tag des Jahres! Ihm war offensichtlich „eingefallen“, dass er 364 Tage lang nicht die Zeit hatte zur Kontrolle zu gehen – vor dem Hintergrund, dass bei einjähriger Unterbrechung ja jeglicher Bonus aus den Jahren davor erlischt.
Die Zahnärztin weigert sich: Im Wartezimmer sitzen noch andere Schmerzpatienten und das Team ist an diesem Tag nur reduziert besetzt. Daraufhin baut sich der Patient – ein großer, stämmiger Mann – vor ihr auf, schaut auf sie herab und droht: „Und wie du eine Kontrolle machst und mir den Stempel gibst!“ Die Kollegin ist mit ihrer Assistenz allein im Raum. Sie fordert ihn auf zu gehen und droht mit dem Sicherheitsdienst des Klinikums. Der Patient verlässt wutentbrannt den Notdienst.
Die Kollegin hat geblufft – der Dienst hätte gar nicht so schnell zur Stelle sein können. Zum Teil war es Glück, dass der Bluff funktioniert hat, zum Teil war es ihr souveränes Auftreten, das den Patienten glauben ließ, Ärger zu bekommen.
Einordnung
Notdienste bergen häufig Konfliktpotenzial. Die Behandlung erfolgt in der Regel mit einer geringen Personalbesetzung, meist mit nur einer Zahnärztin und einer Assistenz. In der Klinik kann mögliche Hilfe durch weitere Klinikmitarbeiter oder eben die Security gerufen werden, in niedergelassenen Praxen sind Zahnarzt und Assistenz häufig auf sich allein gestellt – zu jeder Tages- und Nachtzeit. Diese Tatsache macht Notdienste vor allem bei Frauen sehr unbeliebt.
Der Fall zeigt typische Verhaltensmuster: Der Patient ist körperlich überlegen und versucht, sein Gegenüber einzuschüchtern. Gewaltandrohung oder gar -anwendung passiert dann am häufigsten, wenn sich der Aggressor körperlich überlegen fühlt – klassisch: starker Mann gegen schwache Frau.
Dabei handeln Patienten meistens nicht absichtlich bösartig. Sie haben oft eine gewisse Leidenszeit hinter sich und sind durch Schmerz und/oder Schlafmangel körperlich geschwächt. Das führt zu einer starken emotionalen Belastung und in der Folge auch mal zu impulsiven Handlungen. Je mehr und länger die Schmerzen andauern, desto stärker ist der Patient in seiner subjektiven Wahrnehmung gefangen und fixiert auf das Ziel, die Schmerzen endlich loszuwerden. So kommt es, dass er – wenn er schon mal da ist – die Chance nutzen will, alles „in einem Aufwasch“ zu erledigen, die Schmerzen und alles andere gleich mit. Er übersieht in seiner Ich-Bezogenheit, dass er in die Notversorgung gekommen ist – und sich eben nicht in einer normalen Behandlungssituation befindet. Er kreist um sich selbst und kann sich nicht in die Lage des Praxispersonals einfühlen.
Tipps vom Profi
Das Telefon ist im Notdienst ohnehin schnell griffbereit. Am besten trägt es ein Praxismitglied am Körper, um direkt einen Notruf absetzen zu können.
Holen Sie sich nach Möglichkeit Unterstützung von einer männlichen Person, wenn Sie fürchten, nachts im Notdienst in Bedrängnis zu geraten. Gegebenenfalls kommt der Partner, der Bruder oder ein männlicher Freund mit in die Praxis. Er muss nichts weiter tun, als an der Rezeption (am besten in Praxiskleidung) zu sitzen, so dass ihn alle Patienten sehen, wenn sie hereinkommen. Ein aggressiver Patient überlegt sich sehr genau, mit wem er es aufnehmen kann.
Nutzen Sie die Behandlungsräume, die einen guten Fluchtweg bieten – das heißt nicht das Zimmer hinten links ums Eck, in dem der Chef alles zur Behandlung in seinen Schubladen hat, sondern lieber den etwas weniger gut ausgestatteten Prophylaxe-Raum direkt neben der Eingangstür – mit kurzem Weg nach draußen.
Im Behandlungszimmer sollte sich das Team so positionieren, dass der Fluchtweg nicht versperrt ist. Mögliche Hindernisse wie den Endo-Wagen mit den Kabeln, über die man gerne stolpert, sollten Sie so platzieren, dass der Weg zur Tür immer frei ist. Nutzen Sie eine Steckdose, bei der das Kabel nicht im Weg liegt. Versuchen Sie auch im Gespräch mit dem Patienten, ihn nie zwischen sich und die Tür zu lassen. Ein körperlich überlegener Mann darf nicht die Chance haben, den Weg nach draußen zu versperren.
Im Ernstfall gilt „flight before fight“: Sollte sich eine körperliche Auseinandersetzung anbahnen, steht an erster Stelle, dass Sie aus der Situation herauskommen. Wird im Gespräch klar, dass etwas hochkocht, kann man im Optimalfall unter dem Vorwand, noch etwas für die Behandlung holen zu müssen, den Raum verlassen. Dann können Sie Hilfe in Form der Polizei anfordern. Sollte eine „verdeckte“ Flucht nicht möglich sein, versuchen Sie dennoch zu flüchten. Sofern es baulich machbar ist, können Sie den Täter einschließen. Achtung: Glastüren bieten kein großes Hindernis, eine Feuerschutztür oder eine Haustür dagegen schon. Ein Sachschaden ist einem körperlichen Schaden immer vorzuziehen.
Wenn das nicht geht, bleibt nur die Auseinandersetzung. Als körperlich Unterlegene sollte Ihr oberstes Gebot sein, Abstand zu wahren. Im Behandlungszimmer können Sie etwa den Behandlungsstuhl oder den Endo-Wagen zwischen sich und den Patienten ziehen – alles, was eine Barriere ist. Ansonsten helfen nur Selbstverteidigungstechniken und eine Strategie für das Team.
Achtung: Schmerzpatienten kommen häufig in Begleitung. Das bedeutet, mit einem Patienten hat man womöglich schnell zwei oder mehr potenzielle „Angreifer“ in der Praxis. Sofern Antibiotika zum Einsatz kommen müssen, können Sie diese sehr gut als Vorwand für ein schnelles Verlassen der Praxis und die unverzügliche Vorstellung bei einer Notdienstapotheke nutzen.
Der berauschte Patient
Ein Schmerzpatient stellt sich erstmals in einer niedergelassenen Praxis vor, offensichtlich alkoholisiert und/oder unter Drogen. Bereits an der Rezeption kommt es nach der Aufforderung, die Krankenkassenkarte vorzulegen und den Anamnesebogen auszufüllen, zur Eskalation. Der Patient ist unkooperativ, wird unverzüglich laut und verbal aggressiv. Nachdem er die ZFA lautstark als „türkische Fot…“ tituliert und androht, sie nach Feierabend vor der Praxis abzupassen, alarmiert diese den Chef. Er schafft es, den Patienten der Praxis zu verweisen. Die bedrohte und beleidigte Angestellte wiederum stellt Anzeige bei der örtlichen Polizei. Der pöbelnde Patient ist dort kein Unbekannter.
Einordnung
Niemand weiß vorher, wer in die Praxis kommt und mit welcher Vorgeschichte. Der Patient in diesem Beispiel hat offensichtlich schwerwiegendere Probleme als Zahnschmerzen. Anders als bei speziellen Abteilungen in der Klinik, spezialisierten Facharztpraxen oder dem OP-Bereich in einer Klinik, in die in der Regel nur eine vorsortierte Klientel vordringt, steht der Besuch beim Zahnarzt oder in der Notaufnahme jeder Person ohne jegliche Überweisung offen. Das heißt umgekehrt nicht, dass nicht auch in solchen Praxen oder Klinikbereichen etwas vorfallen kann, aber die Wahrscheinlichkeit ist geringer. Ein Endokrinologe in der Praxis wird sehr wahrscheinlich wenig akute Traumafälle oder Schmerzpatienten behandeln.
Verbale Gewalt beginnt häufig subtil, ist aber schon im Ansatz zu ersticken. Unterschwellige Bemerkungen wie „Was wollen Sie denn jetzt noch alles von mir?“ oder „Wie oft soll ich das jetzt noch erklären?“ können bereits Rückschlüsse auf die Verfassung eines Patienten zulassen. Täter verwenden übrigens nicht selten Redewendungen mit Bezug auf das Geschlecht, die Herkunft, die Ehre oder das Aussehen. Beispiele hierfür sind hinlänglich bekannt: „türkische Schlampe!“ oder „Was guckst du so dumm?“. Das sind plumpe und inhaltslose Aussagen, die aber bei einem körperlich überlegenen, womöglich stimmgewaltigen Aggressor sehr einschüchternd wirken können.
In diesem Fall wurde keine Behandlung durchgeführt, da es bereits an der Rezeption zur Eskalation kam. Gründe für ein solches Benehmen gibt es viele – sei es Frust aufgrund von Schmerzen, eine abgelehnte Behandlung, Kostenpläne, Alkohol- oder Drogenprobleme, Ausländerfeindlichkeit, ...
Tipps vom Profi
Sofern verbale oder körperliche Gewalt im „offenen Raum“ (Eingangsbereich oder Wartezimmer) möglich scheint, sollte der Aggressor nicht weiter in die Praxis vordringen können. Eskaliert die Situation, sollten Sie Verstärkung holen, einen Notruf absetzen und die anderen Patienten so gut wie möglich schützen. Achten Sie auf Abstand. Die Rezeption ist dafür eine gute Barriere.
Halten Sie den Eingangs- und Wartebereich möglichst „waffenfrei". In Rage werfen Täter zur Machtdemonstration häufig mit herumliegenden Dingen und zerstören Gegenstände. Missbraucht werden können dafür Informationsständer oder bewegliche Dekorationsartikel wie Vasen an der Rezeption.
Generell gilt: Selbstschutz geht vor! Wie bei Erste-Hilfe- oder Zivilcourage-Aktionen sollte der eigene Schutz an erster Stelle stehen. Sobald der Schutz für Sie und das Team gewährleistet ist, sollten Sie Unbeteiligte aus der Gefahrenzone bringen. Sperren Sie den Angreifer ein oder aus, sofern das möglich ist. Wenn dessen Isolation nicht möglich ist, kann man auch sich selbst (und andere Unbeteiligte) ein-/aussperren, beispielsweise auf der Toilette oder im Labor. In jedem Fall Notruf absetzen.
Gewalt kann „untergründig" beginnen. Deshalb macht es Sinn, bereits beim Verdacht einer Eskalation tätig zu werden und sich Unterstützung zu holen. Dann gilt es, klare Grenze aufzuzeigen und diese deutlich zu kommunizieren. Bleiben Sie stets beim „Sie“ in der Anrede.
Hier kann zur Schulung und Vorbereitung auch ein Selbstverteidigungskurs oder ein Deeskalationstraining mit Techniken wie Körpersprache und Augenkontakt helfen.
Der unzufriedene Patient mit Sprachbarriere
Auf Empfehlung seiner Ehefrau kommt ein Patient mit chirurgischem und konservierendem Behandlungsbedarf in die Praxis. Der Zahnarzt, der die Frau immer behandelt hatte, ist inzwischen ausschließlich chirurgisch tätig, weshalb die konservierende Versorgung durch einen Kollegen erfolgt. Mehrfach insistiert das Ehepaar und fordert die komplette Übernahme aller Behandlungsschritte durch den bekannten Zahnarzt. Die Praxis sieht sich gezwungen, ein Ultimatum zu stellen: Die vorgegebene Arbeitsteilung ist obligat, ansonsten wird es keine Behandlung in der Praxis geben. Letztendlich willigt der Patient ein. Aufgrund seiner schlechten Deutschkenntnisse ist er auf die Übersetzung seiner Frau angewiesen.
Nach erfolgter Aufklärung wird nach Genehmigung der Krankenkasse und dem schriftlichen Einverständnis des Patienten mit der Zahnersatzversorgung begonnen. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel kann eine höherwertige Zahnersatzversorgung mit Implantaten nicht durchgeführt werden. So erfolgt die Behandlung gemäß der Krankenkassen-Richtlinie. Das hat zur Folge, dass auch vitale Zähne für die Brückenversorgungen beschliffen werden müssen. Während der Versorgung mit Provisorien führen eine starke Kälteempfindlichkeit und progrediente Schmerzen an zwei Zähnen letztendlich zu Wurzelkanalbehandlungen zwecks Schmerzausschaltung. Die Behandlung zweier Zähne mit Cerec-Kronen erfolgt ohne jegliche Probleme und zur vollsten Zufriedenheit des Patienten.
Die definitiven Brücken werden aufgrund einer unsicheren vitalen Prognose einiger Pfeilerzähne provisorisch eingesetzt. Daraufhin stellt sich der Patient innerhalb der kommenden Woche mehrmals wegen „Problemen“ in der Praxis vor. Er kommt ohne seine Ehefrau und kann sich nicht eindeutig mitteilen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen der Verständigung und dem Wiedereinsetzen der Provisorien, meldet sich die Ehefrau telefonisch und wird herablassend gegenüber den Angestellten und dem Zahnarzt. Der (in Deutschland geborene) Zahnarzt mit persischen Wurzeln würde „mit Absicht falsch behandeln“, weil der Patient arabischer Herkunft sei.
Das Paar weigert sich, jegliche Rechnung zu begleichen. Im Nachgang wird der Krankenkasse der Abbruch der Behandlung und die Teilabrechnung der zufriedenstellenden Cerec-Kronen mitgeteilt. Die Brücken und die damit für die Praxis verbundenen Laborkosten werden nicht berechnet. Die Praxis hat am Ende die Laborkosten übernommen, um weitere langwierige rechtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden und um den Kontakt mit dem Patienten schnellstmöglich zu beenden.
Einordnung
Manche Konflikte bahnen sich über einen längeren Zeitraum an, dabei lassen sich verschiedene Interventionspunkte benennen: Wenn jemand eine/n Zahnärztin/Zahnarzt „verfolgt“, ist Vorsicht geboten. Wenn ein Patient ohne Termin wiederholt in der Praxis auftaucht, sollte man hellhörig werden. Was sind die Beweggründe für den Besuch?
Wie im Beispiel beschrieben, wollen sich der Patient und seine Begleitung nicht an die Behandlungsprotokolle halten, obwohl klar definiert ist, wer wofür zuständig ist. Werden die praxisinternen Behandlungs- oder Organisationsprozeduren infrage gestellt, sollte man die Behandlung lieber abbrechen. In diesem Beispiel hätte man nach der ersten mündlichen Aufklärung über die Arbeitsteilung und dem erneuten Insistieren des Patienten die Behandlung beenden sollen. Vermeintlich wurde der Patient überzeugt, doch die Behandlung durch einen anderen Zahnarzt wurde nur zähneknirschend akzeptiert, hat aber den Grundstein für den weiteren Konflikt gelegt.
Sprachliche Defizite erschweren die Kommunikation erheblich, sei es das schwer zu verstehende Beamtendeutsch, die Regelungen der Krankenkassen oder die Aufklärung vor Operationen oder über Nebenwirkungen. Im Zuge der vermehrten Zuwanderung werden sprachliche Hindernisse mangels Dolmetscher im Praxisalltag zunehmen. Wenn möglich, sollte man bei Sprachproblemen einen Dolmetscher anfordern, und den Patienten und den Dolmetscher bei Aufklärungen unterschreiben lassen – ansonsten keine Behandlung beginnen.
Sobald die Herkunft der Beteiligten thematisiert wird, am besten die Reißleine ziehen. Die Unterstellung, Behandlungen würden nach kultureller oder ethnischer Herkunft unterschiedlich ausfallen, ist absurd. Sie zeigt nur, wie Konflikte eskalieren können. Im Beispiel war die Arbeit bereits gemacht, als die Frage aufkam – daher gab es keinen Weg zurück. Sollte es allerdings vorher absehbar sein, ist es ratsam, die Therapie sofort zu beenden.
Tipps vom Profi
Das unangekündigte Auftauchen in der Praxis, womöglich noch mit der Ansage verbunden, sofort den Chef sprechen zu wollen („Den kauf ich mir jetzt persönlich“), ist ein Beispiel für einen Einschüchterungsversuch. Bei einer solchen Dynamik gilt zuallererst, das Team vollumfänglich zu briefen. „Herr Müller ist nicht zufrieden, weil ihm dies und jenes nicht passt. Er war schon mehrfach unangekündigt hier und hat heute Frau Meier am Telefon angefahren.“ Dann wissen alle im Team Bescheid und können entsprechend handeln.
Sinnvoll wäre auch die sofortige Isolation des Patienten gewesen. Sobald der Patient ungebeten die Praxis betritt, sollte man ihm keine Möglichkeit der Eskalation bieten. Empfangen Sie ihn höflich, ja überschwänglich freudig: „Hallo Herr Müller, schön, dass Sie es einrichten konnten. Haben Sie die Unterlagen dabei, dann kümmere ich mich gleich mal darum. Nehmen Sie doch gerne im Beratungszimmer Platz. Der Chef kommt gleich.“ So ist das vermeintliche Überraschungsmoment des Patienten – „mal so richtig auf den Putz zu hauen“ – ausgehebelt. Die freundliche Begrüßung und die zuvorkommende Behandlung machen es ihm sehr schwer, einen verbalen Konflikt anzuzetteln. Ziel ist, den Patienten aus dem Praxisablauf zu isolieren und ihm keine Störoptionen zu geben.
Wenn Sie einen solchen Kampf ausfechten müssen, dann diktieren Sie die Rahmenbedingungen.
Im vorliegenden Fall wurden Teile der Kosten von der Praxis übernommen, mit dem Ziel, den Kontakt so schnell wie möglich zu beenden. In einer Auseinandersetzung mit anhängenden Kosten kommt der Punkt, an dem man vor der Entscheidung steht, es darauf ankommen zu lassen oder abzubrechen. Soll man einen rechtlichen Streit, womöglich über Jahre, mit all seinen finanziellen und emotionalen Opfern in Kauf nehmen? Das muss jede Praxis individuell beurteilen. Die Anwaltskosten und der zeitliche Aufwand stehen hier im Gegensatz zum Rechtsgefühl und müssen bedacht werden.
Praxen, die schon einmal Aggressionen und Gewalt durch Patienten erlebt haben, rät Klingert unbedingt, den Vorfall im Team zu besprechen. „Die Aufarbeitung ist ganz wichtig, quasi wie eine Art Manöverkritik. Dabei dürfen die Mitarbeitenden auch von ihren Ängsten und Unsicherheiten offen erzählen“, betont Klingert. „Die Praxisführung sollte ihre Hilfe anbieten und, wenn nötig oder möglich, auch professionelle Unterstützung hinzuziehen. Wichtig ist, zum Abschluss immer auch die Stärken des Teams, den Zusammenhalt und die Dankbarkeit dafür, die Mannschaft führen zu dürfen, hervorzuheben. Das stärkt das Team im Zusammenhalt und macht es unbesiegbar.“